Angst
Waldsterben, Apokalypse, Überfremdung – wir Deutschen haben einfach immer Angst! Warum eigentlich? Frank Biess hat der Angstgeschichte der Bundesrepublik ein Buch gewidmet und sich mit uns für ein Interview in Berlin getroffen. In einer Zeit vor Zoom und Jitsi. Und vor Corona. Im Vorwort reflektiert Frank Biess über die Bedeutung und die Folgen der aktuellen „Virus-Angst“
INTERVIEW Charlotte Miggel
ILLUSTRATION Opti 2000
Das folgende Interview ist kaum ein Jahr alt, und dennoch liest es sich in Teilen wie aus einer anderen Welt. Die im Gespräch thematisierten Ängste – vor dem Rechtspopulismus oder vor der Klimakatastrophe – rücken momentan aus dem Blickfeld. Stattdessen dominiert die Angst vor einer unsichtbaren, aber dennoch allgegenwärtigen Bedrohung für die gesamte Menschheit: die Angst vor dem Virus.
Aus einer kürzer gefassten historischen Perspektive erscheint das Corona-Virus als die perfekte Metapher für die Gefahren einer zunehmend beschleunigten Globalisierung. Die Corona-Angst steht somit in der Kontinuität der Globalisierungsängste seit mindestens den 1990er-Jahren, die sich in der Angst vor Terror oder vor Flüchtlingen äußerten. Ängste, die von Rechtspopulisten mobilisiert und politisiert worden sind und maßgeblich zu deren globalem Aufstieg beitrugen. Ähnlich wie der Angst vor dem Klimawandel fehlt der Angst vor dem Virus ein konkreter Ort. Gerade das macht es auch so schwierig, ihr effektiv zu begegnen. Währen der Klimawandel jedoch eine „Katastrophe ohne Ereignis“ (Eva Horn) repräsentiert, erfahren wir die Pandemie als distinktives Ereignis mit einer eigenen Zeitlichkeit – die Welt vor dem „lockdown“ erscheint uns als die „Welt von gestern,“ die Erfahrung der Quarantäne ist bestimmt durch das „Wie lange noch?“.
Wichtig erscheint mir immer auch die Betonung der produktiven und positiven Funktionen der Angst. Im konkreten Fall motiviert uns diese zur Einhaltung der sozialen Distanz und zur Minimierung des Infektionsrisikos. Doch die politischen Folgen der derzeitigen Angstkrise sind völlig offen. Wird die gemeinsame Erfahrung der Virus-Angst gemeinschaftsbildend wirken und neue Formen der globalen Solidarität produzieren? Oder wird sie dazu führen, neue Grenzen zu schaffen bzw. bereits existierende zu verfestigen? An diesen Fragen offenbart sich die immer ambivalente Wirkung der Angst. Die post-Corona-Zeit wird im Schatten dieser jüngsten Angstkrise stehen. Welche Lehren wir daraus ziehen, wird zu einer der entscheidenden politischen Fragen der Zukunft werden. FRANK BIESS
Charlotte Miggel: Herr Biess, fast allen Nationalitäten werden ja mehr oder weniger schmeichelhafte Eigenschaften zugeschrieben: Die Briten essen schlecht, die Franzosen rauchen viel, die Italiener sind schön, die Griechen faul – und die Deutschen? Diszipliniert, verzagt und ängstlich?
Frank Biess: Das sind offensichtlich Klischees. Ich wehre mich gegen die Vorstellung dieser nationalen Stereotypen. Es ist schwierig und potenziell auch gefährlich, wenn ganzen Kollektiven bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Dann wird nämlich der Eindruck vermittelt, dass das homogene Kollektive sind, deren Mitglieder alle dieselben Charakteristika teilen. Mich interessiert eher die Frage, wie solche Klischees entstehen und welche Funktion sie erfüllen.
CM: Das klingt jetzt fast so, als wäre die berüchtigte deutsche Angst nur ein Mythos und existiere in Wahrheit gar nicht.
FB: Doch, sie existiert schon – davon handelt ja mein Buch. Sie ist aber eben nicht der Auswurf irgendeiner nationalen spezifischen Eigenschaft, die die Deutschen angeblich schon immer hatten und offenbar auch nicht loswerden können. Sie erklärt sich als Resultat einer ganz spezifischen historischen und politischen Konstellation, insbesondere der Nachkriegszeit, also der Zeit nach 1945.
CM: Welche historischen Umstände sind das und wie tragen sie zur Angstneigung der Deutschen bei?
FB: Ich versuche die Geschichte seit 1945 als eine Geschichte von Angstzyklen zu erzählen. Zyklisch heißt, die Dinge wiederholen sich und es gibt ein Auf und Ab von kollektiven Ängsten. Diese Vorstellung steht im Kontrast zu herkömmlichen Narrativen der deutschen Geschichte seit 1945, die ja eher eine Art linearer Erfolgsgeschichte erzählen, von wegen: Es geht immer bergauf.
In der Frühzeit der Bundesrepublik bezogen sich die Ängste der Deutschen vor allem auf die äußere Situation. Deutschland war ein halbsouveränes, besetztes Land an der vordersten Front des Kalten Krieges. Am Anfang, 1945, stand gewissermaßen die Urangst der Deutschen, nämlich die Angst vor Vergeltung. Diese Vergeltungsängste basierten auf dem eigenen Wissen der Deutschen um die Beteiligung an den NS-Verbrechen. Man fürchtete, dass die Alliierten oder die Opfer selbst sich jetzt rächen würden. Daran wird klar, dass kollektive Ängste immer aus einem Zusammenspiel entstehen, nämlich dem aus Erinnerung an die Vergangenheit und Antizipation einer möglichen schlechten Zukunft. Angst ist ein Gefühl, das per Definition immer auf die Zukunft gerichtet ist. Wir ängstigen uns vor Dingen, die wir für möglich halten, von denen wir aber nicht wollen, dass sie sich ereignen.
CM: Aber die Angst vor Krieg im Kalten Krieg gab es doch mit Sicherheit in allen beteiligten Staaten. Und auch Kriegstraumata und Verlusterinnerungen an verlorene Kriege sind kein spezifisch deutsches Phänomen.
FB: Ich glaube aber schon, dass das in Deutschland eine spezifische Form annahm. Gerade diese schuldgeprägte Vergeltungsangst ist eigentlich etwas, das, zumindest in diesem Ausmaß, in anderen Ländern gar nicht existieren konnte. Ansonsten sind es auch weniger die Objekte der Ängste, die so individuell sind, als vielmehr ihre Intensität und die Art ihrer Artikulation. Diese massiven Zukunftsängste und das ständige Sich-vor-Augen-führen von möglichen Bedrohungen – das war der alten Bundesrepublik schon zu eigen. Und es ist lange nicht gelungen, das zu historisieren, es ist nur immer pathologisiert, also als etwas Krankhaftes identifiziert worden.
CM: Sie meinen also, diese starke Angst der Deutschen hat man als ein Zeichen von Schwäche gewertet und gewissermaßen auch belächelt.
FB: Naja, jedenfalls hat man sich rückblickend nicht die Mühe gemacht, das überhaupt ernst zu nehmen. Anstatt diese Angst als historische Tatsache einzuordnen, hat man sie gerne als hysterisch und irrational abgestempelt. Das heißt, es gab dafür kein Verständnis, es wurde abgeurteilt – auch, weil dieser hysterische Charakter der Angst so gar nicht vereinbar war mit den gängigen erfolgsgeschichtlich orientierten Narrativen der deutschen Geschichte seit 1945. Mein Ziel war es, das erstmal zu verstehen, zu erklären, wo es herkommt, welche Form es annimmt und welche Funktion es unter Umständen auch erfüllt hat.
Historikerinnen und Historiker haben ja immer den Vorteil, dass sie wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Da ist es leicht, sich im Nachhinein zu amüsieren über das, worüber die Zeitgenossen sich Sorgen gemacht haben.
CM: Gerade dann, wenn etwas nicht eingetroffen ist.
FM: Ja, ganz genau. Deshalb müssen wir uns darum bemühen, den Zeitgenossen das zuzugestehen, was wir für uns auch immer reklamieren, nämlich, dass wir eine offene und ungewisse Zukunft haben. Wir wissen auch nicht, wie berechtigt unsere gegenwärtigen Ängste sind. Vielleicht werden sie in 50, in 100 Jahren belächelt werden, oder vielleicht wird man sich wundern, dass wir uns nicht noch viel mehr Sorgen gemacht haben.
CM: Sie schreiben, dass offen ausgelebte Angst früher eigentlich eher ein Instrument der Linken war. Heute muss man ja feststellen, dass es genau andersherum ist.
FB: Ja, das ist in der Tat so. Das Verhältnis der Deutschen zu Gefühlen hat sich im Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik massiv verändert. Die Wendung hin zu einer gefühlsbetonteren Politik hat zunächst schon mal auf der Linken stattgefunden. ’68 war da wichtig, die Studentenbewegung, die sich massiv gegen diese „verlogene Rationalität“ der Vorgängergeneration gewendet und diese neue Sensibilität propagiert hat. Das wurde dann auch in den Ausläufern von ’68 wichtig, in der alternativen Szene der Siebziger und Achtziger, der Friedens- und Umweltbewegung. Auch die war massiv geprägt von Angst als emotionaler Antriebskraft. Die rechtspopulistischen Bewegungen stehen in einer Kontinuität dieser expressiven Gefühlskultur und haben das jetzt teilweise für sich übernommen. Sie argumentieren ja auch explizit so, dass sie für die Ängste der Bevölkerung stehen und diese artikulieren, und sie betreiben bewusst mit Angst Politik. So sind auch die Angstobjekte von links nach rechts gewandert, die Kritik am Staat zum Beispiel. Das Verlangen nach einer neuen Republik wird wieder laut.
CM: Welche Rolle spielt Amerika im gegenwärtigen deutschen Rechtspopulismus?
FB: Gerade in Amerika existiert momentan ein starkes Bedürfnis danach, Gefühle offen und ohne jede Hemmung zu artikulieren. Denken Sie an Donald Trumps Auftritte bei den Supreme Court Hearings. Wenn Barack Obama auch nur einen Bruchteil dieser Emotionalität in der Öffentlichkeit gezeigt hätte – das wäre völlig undenkbar gewesen! Angesichts der langen Geschichte rassistischer Vorstellungen von dem, was passiert, wenn schwarze Männer wütend werden. Selbst im Angesicht der schlimmsten Beleidigungen, denen er sich ausgesetzt sah, hat er die Kontrolle nicht verloren. Das ist sicher ein Teil seiner Persönlichkeit, es wurde ihm als schwarzem Präsidenten der USA aber auch mehr oder weniger auferlegt. Da stellt sich schon die Frage: Wer hat eigentlich ein Recht darauf, seine Gefühle offen zu äußern, und in welcher Form? Und Trump als weißer Präsident hat da eben deutlich mehr Spielraum als Obama als schwarzer Präsident.
CM: Wir haben viel über Angst als negative Emotion gesprochen, und vorrangig wird sie als solche auch betrachtet. Allein das Wort bedeutet so viel wie „Enge“ oder „Bedrängnis“. Welche positiven und förderlichen Eigenschaften hat sie aber?
FB: Ja, in der Tat, aus der Alltagserfahrung wissen wir, dass Angst meistens eher ein negatives Gefühl ist, das wir vermeiden wollen. Mitunter nehmen wir Medikamente, um es einzudämmen. Dennoch glaube ich, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik eine wichtige und förderliche Funktion erfüllt hat. Einfach weil die Angst immer auch Ausdruck war dieser Zukunftsungewissheit, begründet durch die deutsche historische Erfahrung. Diese Sensibilität war letztendlich produktiv und hat maßgeblich zur Demokratisierung der Bundesrepublik beigetragen.
CM: Zukunftsangst als eine Präventionsmaßnahme sozusagen?
FB: Ja, so in etwa. Ich beschreibe das als „Gesellschaft im Frühwarnsystem“. Und dieses hat die Demokratie eher gestärkt als unterminiert. Es gibt natürlich auch Argumentationen, die Angst vordergründlich als Bedrohung für die Demokratie und die Grundrechte identifizieren. Das ist natürlich auch eine ihrer Funktionen, das bestreite ich gar nicht! Aber sie hat eben auch diese andere, diese produktive Funktion.
CM: In den Ängsten der Deutschen haben immer auch Feindbilder vorgeherrscht: der Jude, der Werber, der Kommunist, der Muslim. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Medien?
FB: Ich glaube nicht, dass Medien Ängste wirklich produzieren, sie kristallisieren und verstärken sie allenfalls. Sie spiegeln die Stimmung in der Gesellschaft, und das leider manchmal etwas überzeichnet. Gerade als nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland die Panik aufkam, junge deutsche Männer würden von Werbern zahlreich entführt, um für die Fremdenlegionen zu dienen, spielten die Medien die Sache extrem hoch. Die staatlichen Organe haben dann versucht, das wieder einzudämmen, weil sie feststellten, dass es schlicht nicht zutraf. Die hatten sich ja zum großen Teil freiwillig gemeldet! Insofern tragen die Medien zur Bildung von Stereotypen bei, die dann häufig auch als Angstobjekte fungieren. Der Werber ist da ein gutes Beispiel.
CM: Was halten Sie von der Vorstellung, dass unsere deutsche Angsttendenz daher rührt, dass sie seit 1945 von Generation zu Generation weitergereicht worden ist?
FB: Ich finde dieses Argument schwierig nachzuvollziehen. Das ist im Hinblick auf die Kriegskinder, Kriegsenkel, Kriegsurenkel etc. konstruiert worden, analog zu den Holocaust-Überlebenden und der Art und Weise, wie sich so diese Opfererfahrung bei Kindern und auch bei den nachfolgenden Generationen zeigt. Es mag sein, dass das individuell passiert, aber so als generationsübergreifende Erfahrung ist das wenig überzeugend. Ich habe den Verdacht, dass das ein Argument ist, mit dem die Deutschen den Opferstatus für sich reklamieren. Es ist ja auch interessant, dass das Leiden und das Opfertum vererbt werden, die Tätererfahrung ja aber eher nicht. Da würde sich dann jeder wehren. Wenn der Opa in der SS war, hat das nichts mit uns zu tun – wenn es um das Leiden geht, reklamieren wir das schon für uns.
CM: Das sind also Momente, in denen uns Angst durchaus dienlich ist.
FB: Ja, so nach dem Motto: Die verängstigten Deutschen waren immer auch die guten Deutschen. Die intensive und explizite Angst als Indiz dafür, dass die Vergangenheit präsent ist und man versucht, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das sollte einem schon einen gewissen moralischen Status verleihen: Man hat ja versucht, es besser zu machen.
CM: So verrufen war die Angst also nicht immer. Gibt oder gab es in Deutschland jemals sogar so eine Art „Angstkult“?
FB: Das glaube ich durchaus. Gerade in den Achtzigerjahren fiel in öffentlichen Diskussionen, auch in so Talkshows, gerne der Satz: „Sie machen mir Angst!“ Totales Totschlagargument! Denn dazu kann man relativ wenig sagen. Man muss erstmal dieses Gefühl ernst nehmen, und dann ist es ein Statement, das schwer behandelbar ist. Man porträtiert damit dieses persönliche Gefühl als eine Realität, die nicht diskutiert werden kann. Es gibt im „Haus der Geschichte“ in Bonn auch eine Ausstellung über die Angstgeschichte der Bundesrepublik. Dort ist ein Video, das fand ich richtig super, und zwar diskutiert da Helmut Schmidt mit Anhängern der Friedensbewegung. Und man merkt Helmut Schmidt sein geradezu physisches Unwohlsein an, als die ihm vorwarfen, er mache ihnen Angst! Er wusste gar nicht, was er darauf sagen soll! Er ist ja nun mal dieser klassische Vertreter der älteren Generation, die über Ängste so gar nicht reden wollte, es war ihm zutiefst unangenehm. Aber als Bundeskanzler hat er sich trotzdem abgequält und versucht, sich das anzuhören.
CM: Als richtig glamourösen Kult kann man German Angst trotzdem nicht bezeichnen... Die weintrinkenden Franzosen geben da doch irgendwie ein besseres Bild ab.
FB: Da bin ich mir gar nicht so sicher! In der Friedensbewegung der Achtzigerjahre, in der ich sozialisiert wurde, hatte das schon eine gewisse Strahlkraft. Man war stolz auf die Angst und man lebte sie demonstrativ aus. Die Ängstlichen verschafften sich eine Art privilegierten Zugang zur Realität. Und die, die keine Angst hatten, haben nicht erkannt, was eigentlich los ist. Als 1981 der Evangelische Kirchentag unter dem Motto „Fürchtet Euch nicht“ stattfand, demonstrierten Zehntausende unter dem abgewandelten Motto „Fürchtet Euch“. Das stand quasi für das richtige Verhältnis zur Welt. Für Heidegger war die existenzielle Angst ja im Grunde das, was uns die Wahrheit über das „In-der-Welt-sein“ vermittelt. Die Friedensbewegung hat das ein Stück weit übernommen.
CM: Herr Biess, abschließend muss ich natürlich fragen: Wovor haben Sie denn Angst?
FB: (Lacht) Ja, das fragen immer alle! Die größte Gefahr sehe ich aktuell in der Kritik an der Demokratie, die in den Zwanziger-/Dreißigerjahren schon mal vorherrschend war. Besonders die Tatsache, dass die Erinnerung an die Nazizeit, an den Zweiten Weltkrieg, nicht mehr so präsent ist wie sie es vor drei Jahrzehnten noch war, ist mit ein Grund dafür, dass bestimmte Tabus wieder gebrochen werden.
Frank Biess, „Republik der Angst“, erschienen 2019 im Rowohlt Verlag
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Waldsterben, Apokalypse, Überfremdung – wir Deutschen haben einfach immer Angst! Warum eigentlich? Frank Biess hat der Angstgeschichte der Bundesrepublik ein Buch gewidmet und sich mit uns für ein Interview in Berlin getroffen. In einer Zeit vor Zoom und Jitsi. Und vor Corona. Im Vorwort reflektiert Frank Biess über die Bedeutung und die Folgen der aktuellen „Virus-Angst“
INTERVIEW Charlotte Miggel
ILLUSTRATION Opti 2000
Das folgende Interview ist kaum ein Jahr alt, und dennoch liest es sich in Teilen wie aus einer anderen Welt. Die im Gespräch thematisierten Ängste – vor dem Rechtspopulismus oder vor der Klimakatastrophe – rücken momentan aus dem Blickfeld. Stattdessen dominiert die Angst vor einer unsichtbaren, aber dennoch allgegenwärtigen Bedrohung für die gesamte Menschheit: die Angst vor dem Virus.
Aus einer kürzer gefassten historischen Perspektive erscheint das Corona-Virus als die perfekte Metapher für die Gefahren einer zunehmend beschleunigten Globalisierung. Die Corona-Angst steht somit in der Kontinuität der Globalisierungsängste seit mindestens den 1990er-Jahren, die sich in der Angst vor Terror oder vor Flüchtlingen äußerten. Ängste, die von Rechtspopulisten mobilisiert und politisiert worden sind und maßgeblich zu deren globalem Aufstieg beitrugen. Ähnlich wie der Angst vor dem Klimawandel fehlt der Angst vor dem Virus ein konkreter Ort. Gerade das macht es auch so schwierig, ihr effektiv zu begegnen. Währen der Klimawandel jedoch eine „Katastrophe ohne Ereignis“ (Eva Horn) repräsentiert, erfahren wir die Pandemie als distinktives Ereignis mit einer eigenen Zeitlichkeit – die Welt vor dem „lockdown“ erscheint uns als die „Welt von gestern,“ die Erfahrung der Quarantäne ist bestimmt durch das „Wie lange noch?“.
Wichtig erscheint mir immer auch die Betonung der produktiven und positiven Funktionen der Angst. Im konkreten Fall motiviert uns diese zur Einhaltung der sozialen Distanz und zur Minimierung des Infektionsrisikos. Doch die politischen Folgen der derzeitigen Angstkrise sind völlig offen. Wird die gemeinsame Erfahrung der Virus-Angst gemeinschaftsbildend wirken und neue Formen der globalen Solidarität produzieren? Oder wird sie dazu führen, neue Grenzen zu schaffen bzw. bereits existierende zu verfestigen? An diesen Fragen offenbart sich die immer ambivalente Wirkung der Angst. Die post-Corona-Zeit wird im Schatten dieser jüngsten Angstkrise stehen. Welche Lehren wir daraus ziehen, wird zu einer der entscheidenden politischen Fragen der Zukunft werden. FRANK BIESS
Charlotte Miggel: Herr Biess, fast allen Nationalitäten werden ja mehr oder weniger schmeichelhafte Eigenschaften zugeschrieben: Die Briten essen schlecht, die Franzosen rauchen viel, die Italiener sind schön, die Griechen faul – und die Deutschen? Diszipliniert, verzagt und ängstlich?
Frank Biess: Das sind offensichtlich Klischees. Ich wehre mich gegen die Vorstellung dieser nationalen Stereotypen. Es ist schwierig und potenziell auch gefährlich, wenn ganzen Kollektiven bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Dann wird nämlich der Eindruck vermittelt, dass das homogene Kollektive sind, deren Mitglieder alle dieselben Charakteristika teilen. Mich interessiert eher die Frage, wie solche Klischees entstehen und welche Funktion sie erfüllen.
CM: Das klingt jetzt fast so, als wäre die berüchtigte deutsche Angst nur ein Mythos und existiere in Wahrheit gar nicht.
FB: Doch, sie existiert schon – davon handelt ja mein Buch. Sie ist aber eben nicht der Auswurf irgendeiner nationalen spezifischen Eigenschaft, die die Deutschen angeblich schon immer hatten und offenbar auch nicht loswerden können. Sie erklärt sich als Resultat einer ganz spezifischen historischen und politischen Konstellation, insbesondere der Nachkriegszeit, also der Zeit nach 1945.
CM: Welche historischen Umstände sind das und wie tragen sie zur Angstneigung der Deutschen bei?
FB: Ich versuche die Geschichte seit 1945 als eine Geschichte von Angstzyklen zu erzählen. Zyklisch heißt, die Dinge wiederholen sich und es gibt ein Auf und Ab von kollektiven Ängsten. Diese Vorstellung steht im Kontrast zu herkömmlichen Narrativen der deutschen Geschichte seit 1945, die ja eher eine Art linearer Erfolgsgeschichte erzählen, von wegen: Es geht immer bergauf.
In der Frühzeit der Bundesrepublik bezogen sich die Ängste der Deutschen vor allem auf die äußere Situation. Deutschland war ein halbsouveränes, besetztes Land an der vordersten Front des Kalten Krieges. Am Anfang, 1945, stand gewissermaßen die Urangst der Deutschen, nämlich die Angst vor Vergeltung. Diese Vergeltungsängste basierten auf dem eigenen Wissen der Deutschen um die Beteiligung an den NS-Verbrechen. Man fürchtete, dass die Alliierten oder die Opfer selbst sich jetzt rächen würden. Daran wird klar, dass kollektive Ängste immer aus einem Zusammenspiel entstehen, nämlich dem aus Erinnerung an die Vergangenheit und Antizipation einer möglichen schlechten Zukunft. Angst ist ein Gefühl, das per Definition immer auf die Zukunft gerichtet ist. Wir ängstigen uns vor Dingen, die wir für möglich halten, von denen wir aber nicht wollen, dass sie sich ereignen.
CM: Aber die Angst vor Krieg im Kalten Krieg gab es doch mit Sicherheit in allen beteiligten Staaten. Und auch Kriegstraumata und Verlusterinnerungen an verlorene Kriege sind kein spezifisch deutsches Phänomen.
FB: Ich glaube aber schon, dass das in Deutschland eine spezifische Form annahm. Gerade diese schuldgeprägte Vergeltungsangst ist eigentlich etwas, das, zumindest in diesem Ausmaß, in anderen Ländern gar nicht existieren konnte. Ansonsten sind es auch weniger die Objekte der Ängste, die so individuell sind, als vielmehr ihre Intensität und die Art ihrer Artikulation. Diese massiven Zukunftsängste und das ständige Sich-vor-Augen-führen von möglichen Bedrohungen – das war der alten Bundesrepublik schon zu eigen. Und es ist lange nicht gelungen, das zu historisieren, es ist nur immer pathologisiert, also als etwas Krankhaftes identifiziert worden.
CM: Sie meinen also, diese starke Angst der Deutschen hat man als ein Zeichen von Schwäche gewertet und gewissermaßen auch belächelt.
FB: Naja, jedenfalls hat man sich rückblickend nicht die Mühe gemacht, das überhaupt ernst zu nehmen. Anstatt diese Angst als historische Tatsache einzuordnen, hat man sie gerne als hysterisch und irrational abgestempelt. Das heißt, es gab dafür kein Verständnis, es wurde abgeurteilt – auch, weil dieser hysterische Charakter der Angst so gar nicht vereinbar war mit den gängigen erfolgsgeschichtlich orientierten Narrativen der deutschen Geschichte seit 1945. Mein Ziel war es, das erstmal zu verstehen, zu erklären, wo es herkommt, welche Form es annimmt und welche Funktion es unter Umständen auch erfüllt hat.
Historikerinnen und Historiker haben ja immer den Vorteil, dass sie wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Da ist es leicht, sich im Nachhinein zu amüsieren über das, worüber die Zeitgenossen sich Sorgen gemacht haben.
CM: Gerade dann, wenn etwas nicht eingetroffen ist.
FM: Ja, ganz genau. Deshalb müssen wir uns darum bemühen, den Zeitgenossen das zuzugestehen, was wir für uns auch immer reklamieren, nämlich, dass wir eine offene und ungewisse Zukunft haben. Wir wissen auch nicht, wie berechtigt unsere gegenwärtigen Ängste sind. Vielleicht werden sie in 50, in 100 Jahren belächelt werden, oder vielleicht wird man sich wundern, dass wir uns nicht noch viel mehr Sorgen gemacht haben.
CM: Sie schreiben, dass offen ausgelebte Angst früher eigentlich eher ein Instrument der Linken war. Heute muss man ja feststellen, dass es genau andersherum ist.
FB: Ja, das ist in der Tat so. Das Verhältnis der Deutschen zu Gefühlen hat sich im Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik massiv verändert. Die Wendung hin zu einer gefühlsbetonteren Politik hat zunächst schon mal auf der Linken stattgefunden. ’68 war da wichtig, die Studentenbewegung, die sich massiv gegen diese „verlogene Rationalität“ der Vorgängergeneration gewendet und diese neue Sensibilität propagiert hat. Das wurde dann auch in den Ausläufern von ’68 wichtig, in der alternativen Szene der Siebziger und Achtziger, der Friedens- und Umweltbewegung. Auch die war massiv geprägt von Angst als emotionaler Antriebskraft. Die rechtspopulistischen Bewegungen stehen in einer Kontinuität dieser expressiven Gefühlskultur und haben das jetzt teilweise für sich übernommen. Sie argumentieren ja auch explizit so, dass sie für die Ängste der Bevölkerung stehen und diese artikulieren, und sie betreiben bewusst mit Angst Politik. So sind auch die Angstobjekte von links nach rechts gewandert, die Kritik am Staat zum Beispiel. Das Verlangen nach einer neuen Republik wird wieder laut.
CM: Welche Rolle spielt Amerika im gegenwärtigen deutschen Rechtspopulismus?
FB: Gerade in Amerika existiert momentan ein starkes Bedürfnis danach, Gefühle offen und ohne jede Hemmung zu artikulieren. Denken Sie an Donald Trumps Auftritte bei den Supreme Court Hearings. Wenn Barack Obama auch nur einen Bruchteil dieser Emotionalität in der Öffentlichkeit gezeigt hätte – das wäre völlig undenkbar gewesen! Angesichts der langen Geschichte rassistischer Vorstellungen von dem, was passiert, wenn schwarze Männer wütend werden. Selbst im Angesicht der schlimmsten Beleidigungen, denen er sich ausgesetzt sah, hat er die Kontrolle nicht verloren. Das ist sicher ein Teil seiner Persönlichkeit, es wurde ihm als schwarzem Präsidenten der USA aber auch mehr oder weniger auferlegt. Da stellt sich schon die Frage: Wer hat eigentlich ein Recht darauf, seine Gefühle offen zu äußern, und in welcher Form? Und Trump als weißer Präsident hat da eben deutlich mehr Spielraum als Obama als schwarzer Präsident.
CM: Wir haben viel über Angst als negative Emotion gesprochen, und vorrangig wird sie als solche auch betrachtet. Allein das Wort bedeutet so viel wie „Enge“ oder „Bedrängnis“. Welche positiven und förderlichen Eigenschaften hat sie aber?
FB: Ja, in der Tat, aus der Alltagserfahrung wissen wir, dass Angst meistens eher ein negatives Gefühl ist, das wir vermeiden wollen. Mitunter nehmen wir Medikamente, um es einzudämmen. Dennoch glaube ich, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik eine wichtige und förderliche Funktion erfüllt hat. Einfach weil die Angst immer auch Ausdruck war dieser Zukunftsungewissheit, begründet durch die deutsche historische Erfahrung. Diese Sensibilität war letztendlich produktiv und hat maßgeblich zur Demokratisierung der Bundesrepublik beigetragen.
CM: Zukunftsangst als eine Präventionsmaßnahme sozusagen?
FB: Ja, so in etwa. Ich beschreibe das als „Gesellschaft im Frühwarnsystem“. Und dieses hat die Demokratie eher gestärkt als unterminiert. Es gibt natürlich auch Argumentationen, die Angst vordergründlich als Bedrohung für die Demokratie und die Grundrechte identifizieren. Das ist natürlich auch eine ihrer Funktionen, das bestreite ich gar nicht! Aber sie hat eben auch diese andere, diese produktive Funktion.
CM: In den Ängsten der Deutschen haben immer auch Feindbilder vorgeherrscht: der Jude, der Werber, der Kommunist, der Muslim. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Medien?
FB: Ich glaube nicht, dass Medien Ängste wirklich produzieren, sie kristallisieren und verstärken sie allenfalls. Sie spiegeln die Stimmung in der Gesellschaft, und das leider manchmal etwas überzeichnet. Gerade als nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland die Panik aufkam, junge deutsche Männer würden von Werbern zahlreich entführt, um für die Fremdenlegionen zu dienen, spielten die Medien die Sache extrem hoch. Die staatlichen Organe haben dann versucht, das wieder einzudämmen, weil sie feststellten, dass es schlicht nicht zutraf. Die hatten sich ja zum großen Teil freiwillig gemeldet! Insofern tragen die Medien zur Bildung von Stereotypen bei, die dann häufig auch als Angstobjekte fungieren. Der Werber ist da ein gutes Beispiel.
CM: Was halten Sie von der Vorstellung, dass unsere deutsche Angsttendenz daher rührt, dass sie seit 1945 von Generation zu Generation weitergereicht worden ist?
FB: Ich finde dieses Argument schwierig nachzuvollziehen. Das ist im Hinblick auf die Kriegskinder, Kriegsenkel, Kriegsurenkel etc. konstruiert worden, analog zu den Holocaust-Überlebenden und der Art und Weise, wie sich so diese Opfererfahrung bei Kindern und auch bei den nachfolgenden Generationen zeigt. Es mag sein, dass das individuell passiert, aber so als generationsübergreifende Erfahrung ist das wenig überzeugend. Ich habe den Verdacht, dass das ein Argument ist, mit dem die Deutschen den Opferstatus für sich reklamieren. Es ist ja auch interessant, dass das Leiden und das Opfertum vererbt werden, die Tätererfahrung ja aber eher nicht. Da würde sich dann jeder wehren. Wenn der Opa in der SS war, hat das nichts mit uns zu tun – wenn es um das Leiden geht, reklamieren wir das schon für uns.
CM: Das sind also Momente, in denen uns Angst durchaus dienlich ist.
FB: Ja, so nach dem Motto: Die verängstigten Deutschen waren immer auch die guten Deutschen. Die intensive und explizite Angst als Indiz dafür, dass die Vergangenheit präsent ist und man versucht, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das sollte einem schon einen gewissen moralischen Status verleihen: Man hat ja versucht, es besser zu machen.
CM: So verrufen war die Angst also nicht immer. Gibt oder gab es in Deutschland jemals sogar so eine Art „Angstkult“?
FB: Das glaube ich durchaus. Gerade in den Achtzigerjahren fiel in öffentlichen Diskussionen, auch in so Talkshows, gerne der Satz: „Sie machen mir Angst!“ Totales Totschlagargument! Denn dazu kann man relativ wenig sagen. Man muss erstmal dieses Gefühl ernst nehmen, und dann ist es ein Statement, das schwer behandelbar ist. Man porträtiert damit dieses persönliche Gefühl als eine Realität, die nicht diskutiert werden kann. Es gibt im „Haus der Geschichte“ in Bonn auch eine Ausstellung über die Angstgeschichte der Bundesrepublik. Dort ist ein Video, das fand ich richtig super, und zwar diskutiert da Helmut Schmidt mit Anhängern der Friedensbewegung. Und man merkt Helmut Schmidt sein geradezu physisches Unwohlsein an, als die ihm vorwarfen, er mache ihnen Angst! Er wusste gar nicht, was er darauf sagen soll! Er ist ja nun mal dieser klassische Vertreter der älteren Generation, die über Ängste so gar nicht reden wollte, es war ihm zutiefst unangenehm. Aber als Bundeskanzler hat er sich trotzdem abgequält und versucht, sich das anzuhören.
CM: Als richtig glamourösen Kult kann man German Angst trotzdem nicht bezeichnen... Die weintrinkenden Franzosen geben da doch irgendwie ein besseres Bild ab.
FB: Da bin ich mir gar nicht so sicher! In der Friedensbewegung der Achtzigerjahre, in der ich sozialisiert wurde, hatte das schon eine gewisse Strahlkraft. Man war stolz auf die Angst und man lebte sie demonstrativ aus. Die Ängstlichen verschafften sich eine Art privilegierten Zugang zur Realität. Und die, die keine Angst hatten, haben nicht erkannt, was eigentlich los ist. Als 1981 der Evangelische Kirchentag unter dem Motto „Fürchtet Euch nicht“ stattfand, demonstrierten Zehntausende unter dem abgewandelten Motto „Fürchtet Euch“. Das stand quasi für das richtige Verhältnis zur Welt. Für Heidegger war die existenzielle Angst ja im Grunde das, was uns die Wahrheit über das „In-der-Welt-sein“ vermittelt. Die Friedensbewegung hat das ein Stück weit übernommen.
CM: Herr Biess, abschließend muss ich natürlich fragen: Wovor haben Sie denn Angst?
FB: (Lacht) Ja, das fragen immer alle! Die größte Gefahr sehe ich aktuell in der Kritik an der Demokratie, die in den Zwanziger-/Dreißigerjahren schon mal vorherrschend war. Besonders die Tatsache, dass die Erinnerung an die Nazizeit, an den Zweiten Weltkrieg, nicht mehr so präsent ist wie sie es vor drei Jahrzehnten noch war, ist mit ein Grund dafür, dass bestimmte Tabus wieder gebrochen werden.
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