BLUMEN
Ein Leben für die Blumen
TEXT Linh Tran
FOTOGRAFIE A-Z Redaktion
Nachricht von Mama, Anfang Dezember: „Schönen guten Morgen, con gái. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Wenn was ist, ruf mich an. Ich hab dich lieb.“
Wenn meine Mutter mir so was schreibt, ist sie meistens im Blumenladen. Ich habe dann immer vor Augen, wie sie auf dem umgedrehten Blumenkübel sitzt und das Handy weit von sich weghält, um etwas auf dem Bildschirm zu erkennen. Sie trägt eine Schürze. Ihre Haare sind lockig, seit ich denken kann. Dauerwelle, gefärbt, an den Seiten ein paar graue Stellen.
So kenne ich meine Mutter. Immer im Laden und immer am Arbeiten.
Ihr Blumenladen in Berlin-Friedrichshain ist nicht sehr groß. Innen stehen links die gebundenen Sträuße, rechts die losen Blumen. Hinten, im Lagerraum, stehen stapelweise Übertöpfe und ein Sofa, auf dem meine Mutter sich manchmal ausruht. Draußen sind zwei große Wagen voller Pflanzen. Normalerweise. Seit Mitte Dezember, seit dem zweiten Coronalockdown, muss der Laden geschlossen bleiben.
Wie viele andere Vietnames:innen kam meine Mutter als Vertragsarbeiterin in die DDR. 1987 war das. Da war sie 31 und ich noch nicht geboren. Im volkseigenen Betrieb Goldpunkt, einer Schuhfabrik in Ostberlin, arbeitete sie als Näherin. Es gibt sogar einen Zeitungsartikel aus der B.Z., auf dem Foto sieht man sie und ihre Meisterin. Meine Mutter trägt eine Pünktchenschürze und lächelt.
„Hier verderben die Blumen nicht“
Nach der Wende verloren viele Vietnames:innen ihre Anstellung und fanden keine neue. Sie machten sich selbstständig. Manche verkauften Kleidung, andere eröffneten ein Restaurant. Meine Eltern wurden Blumenhändler:innen. Ich habe mich schon immer gefragt, warum sie sich genau für diesen Beruf entschieden haben. An einem Abend, Mitte Dezember, sitze ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer auf der großen, dunkelroten Couch und frage nach.
Mama: „Wir waren arbeitslos. Hien, der Freund deines Vaters, hat Blumen verkauft und erzählt, dass es funktioniert. Was mache ich mit den verdorbenen Blumen?, habe ich ihn gefragt. Er sagte, die verderben nicht. Hier sei es ja nicht so heiß wie in Vietnam.“
Meine Eltern lernten sich Anfang der 1990er Jahre bei einem gemeinsamen Freund in Berlin kennen. Papa sei sehr witzig gewesen, sagt meine Mutter. Er konnte schon immer gut Geschichten erzählen. Auch er war vor der Wende Vertragsarbeiter gewesen, Werkzeugmacher. Er wollte sich damals etwas zu seinem knappen Gehalt dazuverdienen. Deshalb arbeitete er nebenbei für eine Spielzeugfabrik, wo er auch Froschluftballons aufblies. Das fanden seine Kollegen so witzig, dass sie ihn Tuấn Cóc nannten. Cóc bedeutet so viel wie Kröte. Den Spitznamen hat er bis heute.
Meinen Vater treffe ich an der Spree. Wir gehen spazieren, setzen uns in die Sonne, reden. Auch von ihm will ich wissen, wie es dazu kam, dass er ausgerechnet mit Blumen sein Geld verdient.
Papa: „Als ich arbeitslos wurde, musste ich es versuchen. Wenn man leben will, muss man Arbeit finden. Andere haben Blumen verkauft, da hab ich eben auch Blumen verkauft. Da braucht man nicht viel Startkapital. Für einen Imbiss oder ein Geschäft schon ein paar Tausend Euro. Für Blumen nur ein paar Hundert.“
Arbeiten, schlafen – und wieder von vorn
In Vietnam sind Blumen eine wichtige Sache. Meine Verwandten unterhalten sich gern darüber, wie schön groß die Blätter sind, wie leuchtend die Blüten. So schön, dass man kaum glaubt, dass sie echt sind. Auf Fotos steht meine Familie lieber vor einem Blumenbeet als vor Sehenswürdigkeiten.
Etwa ein Jahr nach meiner Geburt, also 1994, fingen meine Eltern an, Blumen zu verkaufen. Sie brauchten kein Hygienekonzept und keine teure Ausstattung wie für ein Restaurant, keinen Meisterbrief wie für einen Handwerksbetrieb. Sie hatten Glück und bekamen einen Stand bei Kaufland. Es lief gut. Weil meine Eltern nur ein kleines Auto hatten, kauften sie wenig Ware. Abends war immer alles ausverkauft. Es gab Mitarbeiter:innen aus den umliegenden Büros, die täglich Blumen kauften. Dazu kamen die Kund:innen von Kaufland. Irgendwann hatten meine Eltern genug gespart, um den Laden in Friedrichshain zu mieten.
Auf mich passte zu der Zeit meine Tante auf, dann taten es Freunde meiner Eltern, bis ich mit drei oder vier Jahren in den Kindergarten gehen konnte.
26 Jahre ist es nun her, dass meine Eltern in den Blumenhandel einstiegen. Seitdem haben sie nie etwas anderes gemacht. Nachts Blumen geholt, mich morgens zur Schule gebracht, Ware ausgeräumt, Blumen gebunden, Pflanzen gegossen, eingeräumt, verkauft. Abends machte mein Vater die Abrechnung, meine Mutter das Essen. Dann schlafen und das Ganze wieder von vorn.
Als ich klein war, verbrachte ich viel Zeit im Laden. Viele Kund:innen fragten mich, ob ich den Blumenladen meiner Eltern später mal übernehmen möchte. Es sei doch so schön, jeden Tag mit frischen Blumen zu arbeiten! Ich lächelte und dachte: Die haben keine Ahnung. Schon damals hatte ich erkannt: Meine Eltern arbeiteten sich kaputt. Für mich hatten sie in der Regel keine Zeit. Oder sie waren einfach zu müde, um nach der Arbeit noch etwas mit mir zu unternehmen. Im Kino schlief mein Vater einmal ein und schnarchte laut. Das war so peinlich, dass wir es nie wieder probiert haben.
Papa: „Ich habe dir im Laden ein Hochbett gebaut. Dort hast du als Kind viel Zeit verbracht. Die Kunden haben dich gesehen und dir auch mal ein oder zwei Euro geschenkt. Du hast auf dem Hochbett geschlafen oder gespielt.“
Ich weiß noch, wie ich als Kind kleine Sträuße band und stolz war, wenn sie jemand kaufte. Mit meinem Vater experimentierte ich, wir banden Bambus zu geometrischen Figuren und sagten, das sei modern. Manchmal saß ich an der Kasse und führte Strichlisten. Für jeden abkassierten Kunden bekam ich ein paar Cent. Die Hausaufgaben machte ich auf dem Hochbett, meine Freunde traf ich auf dem Spielplatz im Hinterhof. Oft musste ich mich aber allein beschäftigen.
Mama: „Wenn du nicht im Laden warst, warst du im Hort. In den Ferien, an Ostern oder an Weihnachten – immer im Hort. Nicht zu Hause. An Heiligabend hast du mal angerufen und gefragt, wo wir bleiben. Es war sehr schwer. Dein Vater sagte: Komm, wir schmeißen alles hin! Wir verkaufen nicht mehr. Aber wir mussten ja die Sträuße für den nächsten Tag vorbereiten.“
Als mir meine Mutter das erzählt, kommen mir die Tränen. Ich habe mich früh dran gewöhnt, allein zu sein und für mich selbst zu sorgen. Am Wochenende schaute ich den ganzen Tag Kochsendungen von Jamie Oliver und bereitete meinen Eltern abends meine Variante von Risotto zu – Reissuppe mit Tiefkühlerbsen aus dem Reiskocher. Jetzt weiß ich, wie traurig es meine Mutter machte, keine Zeit mit mir verbringen zu können. Ich verstehe, dass sie mich heute jeden Tag anruft und fragt, was ich mache, ob ich schon gegessen habe. Sie will Teil meines Lebens sein.
„Ich erkenne alle wieder“
2005 trennten sich meine Eltern, da war ich 12. Mein Vater zog aus und behielt den Blumenladen, meine Mutter die Wohnung und mich. Sie suchte sich einen neuen Laden. Und fand zum Glück einen im selben Viertel.
Mama: „Ich bin sehr freundlich zu meinen Kunden. Erstens verkaufe ich nicht teuer und zweitens schenke ich den Kindern was. Was Süßes oder eine abgebrochene Blume. Früher waren die Knirpse so klein, jetzt kommen sie schon zusammen mit ihren Freundinnen und kaufen ihnen Rosen. Ich erkenne sie alle wieder.“
Aber auch mit Stammkunden und viel Charme läuft es nicht mehr so gut wie im alten Laden.
Mama: „Luftlinie ist es noch nicht einmal ein Kilometer, aber im alten Laden verdiente man mehr. Die älteren Leute dort hatten gute Jobs in der DDR und kriegen jetzt eine gute Rente. Hier, wo ich jetzt verkaufe, sind die Menschen ärmer. Hier wohnen nur junge Leute, Migranten oder Sozialhilfeempfänger.“
Corona macht die ganze Sache nicht besser. Hochzeiten fielen aus, Hotels mussten schließen.
Mama: „Zu Weihnachten habe ich letztes Jahr gut verdient. Das Hotel hier in der Nähe hat normalerweise 100 Euro pro Woche eingebracht.“
Es ist 18:30 Uhr, an einem der letzten Tage, bevor der Laden wegen des Lockdowns schließen muss. Die Sonne ist längst untergegangen. Die Bauarbeiter trinken ihr Feierabendbier vor dem Späti nebenan. Meine Mutter räumt ihre Ware ein. Die Adventskränze und Gestecke müssen einzeln getragen werden, sonst gehen sie kaputt. Am Schluss legt sie eine Holzrampe auf die Ladentreppe und schiebt den schweren Wagen voller Pflanzen hinein. Manchmal hilft ihr dabei jemand, ein:e Passant:in. Ansonsten fragt sie den Pizzabäcker von nebenan.
Meine Mutter schließt die Tür, zieht ihre Kapuze auf und steigt auf ihr Fahrrad. In wenigen Minuten ist sie zu Hause. Sie kocht, Reis und gebratenes Gemüse, und schaut auf Youtube eine vietnamesische Quizshow an, bei der die Teilnehmer:innen eine Menge Geld verdienen können.
Zum Großmarkt geht meine Mutter in der Regel dienstags, donnerstags und samstags. Als ich klein war, standen meine Eltern schon gegen zwei Uhr auf, um dorthin zu fahren. Auf der Autofahrt erzählt meine Mutter, dass sie damals mehrere Großmärkte abgefahren sind, auf der Suche nach dem besten Angebot.
Der Blumengroßhandel befindet sich im Industriegebiet Lichtenberg – nicht weit von dem vietnamesischen Đồng Xuân Center. Meine Mutter parkt das Auto und schnappt sich einen Wagen. Zusammen gehen wir durch einen dicken Plastikvorhang und gelangen in eine große Halle mit verschiedenen Händler:innen: deutsch, türkisch, vietnamesisch.
Wir biegen beim Vietnamesen ein. Hier hat sie vorbestellt. Sauber aufgereiht stehen kübelweise Schnittblumen da: Chrysanthemen, Rosen – und Schleierkraut. Meine Mutter streift durch die Reihen und schaut sich alles genau an. Ihre Auswahl legt sie auf den Wagen, sie bedankt sich und zahlt.
Morgen muss sie wieder früh raus, Ware kaufen auf dem Großmarkt. Dafür bestellt sie das Gröbste schon mal vor. Ich höre sie am Telefon auf Vietnamesisch sprechen: „200 Tulpen. Und wenn es preiswerte Asthromelien gibt, auch ein, zwei Kübel davon.“ Gegen 21 Uhr ist sie im Bett.
Um 5 Uhr klingelt mein Wecker. Heute will ich sie begleiten, zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren. Als ich in ihr Zimmer komme, liegt sie angezogen auf dem Bett und wartet. „Seit wann bist du wach?“, frage ich. „Seit 4 Uhr. Dann werd’ ich immer unruhig.“
„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“
Deutsche Florist:innen sehe ich hier keine. Vor allem sind es Vietnames:innen, die sich gegenseitig grüßen. Alle sind beschäftigt, aber nehmen sich Zeit für Smalltalk. Sie fragen, ob ich die Tochter bin, wie alt ich bin, ob ich schon arbeite.
Bei meinem letzten Besuch war das anders, es war sehr viel hektischer. Während ich noch aus dem Auto stieg, rannte meine Mutter schon in den Markt. So schnell wie damals hatte ich sie nie erlebt.
Jeder kämpfte da drin für sich. Einmal fehlten in unserem Wagen plötzlich mehrere Sträuße, obwohl ich direkt daneben stand. Ich fühlte mich schlecht und konnte es nicht fassen. Warum waren hier alle so unkollegial?
In einer ZDF-Reportage aus dem Jahr 2013 sieht man, wie ein Großhändler ein Video in die Kamera zeigt: der Markt macht morgens auf, zig Vietnamesen stürmen los.
Der Reporter fragt den Großhändler: „Gibt’s da was umsonst in der ersten Stunde?“
Der Großhändler: „Nein, nur die guten Sachen.“
Reporter: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“
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Allah
Oft fehlt mir das Selbstbewusstsein, meine Religion in Deutschland offen auszuleben. Auch fürchte ich mich oft, vor „Deutschen“ zu sprechen
TEXT Aya Elkhodary
FOTOGRAFIE A-Z Redaktion
Definition: Das Wort „Allah“ leitet sich ab vom Arabischen al-ilah (إله), was so viel bedeutet wie „das Göttliche“ oder „Gott“. Allah ist der muslimische Name für Gott, er wird aber auch von arabischen Christen verwendet. Um einer Erklärung für das, was Allah bedeutet, näher zu kommen, werde ich über meine persönliche Auseinandersetzung mit ihm berichten.
Mit meiner Einwanderung nach Deutschland und dem damit verbundenen Leben in einer aufgeklärten und offenen Gesellschaft, habe ich angefangen, mir Gedanken über meine Religion zu machen. Vor allem habe ich mich mit dem Wesen meines Gottes, Allah, beschäftigt. Phänotypisch kann ich mir Allah nur schwer vorstellen, am ehesten aber, dass er aus Licht besteht beziehungsweise selbst das Licht ist. So wird das auch im Koran beschrieben: „Allah ist das Licht der Himmel und der Erde [...]. Licht über Licht. Allah führt zu seinem Licht, wen Er will [...]“ {24:35}. Seine Eigenschaften betreffend, bin ich davon überzeugt, dass er barmherzig und allvergebend ist. Außerdem ist Allah für mich und ganz viele Muslime das Größte überhaupt. Er ist es, der sich um einen sorgt. Mein Glaube an Allah und der Glaube daran, dass er immer da ist und mir zuhört, gibt mir unglaublich viel Kraft und Halt in meinem Leben. So ergibt alles einen Sinn, egal, ob ich es verstehe, oder nicht.
Muslime, ob sie nun religiös oder säkular eingestellt sind, leben ihren Glauben ganz unterschiedlich aus. Das eine Extrem glaubt nur mit dem Herzen an Allah, befolgt jedoch beispielsweise seine Vorschriften nicht; das andere Extrem ist hingegen sogar der Ansicht, dass Menschen mit anderem Glauben zum Islam gezwungen und – bei Verweigerung – getötet werden müssen. Zwischen diesen Maximen existieren noch zahlreiche Stufen. Persönlich versuche ich immer, Allah näher zu kommen – aber so, dass ich andere dadurch nicht in ihrem eigenen Glauben oder Nicht-Glauben einschränke. Denn das ist genau das, was meiner Auffassung nach Islam, also Friede bedeutet. Dieses friedliche Ideal auszuleben ist nicht immer leicht, viele Hürden müssen überwunden werden. Manchmal sind es Gesellschaft und Parteienpolitik, die sich gegen die freie und uneingeschränkte Auslebung der muslimischen Religion – oder auch der anderer Personen und Glaubensgemeinschaften – stellen. Manchmal ist es aber auch die muslimische Community oder die Familie selbst, die zu hohe Erwartungen bezüglich der Auslebung des Glaubens an eine junge Muslima wie mich stellt. Beides ist meiner Meinung nach falsch!
Oft erkenne ich aber auch, dass ich mir mit meiner eigenen Unentschlossenheit selbst im Weg stehe. Ich befinde mich täglich im inneren Dilemma darüber, ob ich nun etwas von meinem Glauben abgeben sollte, um als integriert zu gelten, oder ob ich nach dem leben sollte, was mir tatsächlich wichtiger ist: meine Religion. Selbst wenn ich dafür blöd angesehen, in eine Schublade gesteckt oder diskriminiert werde.
Und ich bin noch in einer zweiten Frage im Zwiespalt mit mir selbst: Sind meine Erwartungen an mich als Muslima vereinbar mit einem zwanglosen Leben in einer modernen Gesellschaft? Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich die Vorschriften des Korans nie verletze und keine Sünden begehe oder „Fehler“ mache. Sogar mein Vater, der Imam ist und einer der tollsten Menschen, die ich überhaupt kenne, macht welche. Meiner Auffassung nach verlangt Allah von uns auch nicht, fehlerfrei zu sein oder zu werden. Der Prophet Mohammed hat sogar gesagt: „[Selbst] wenn ihr nicht sündigen würdet, so würde Allah euch durch ein anderes Volk ersetzen, das sündigt und Allah um Vergebung bittet, und Allah würde ihm vergeben“ (Sahih Muslim, 2749). Dieser Hadith (Aussage des Propheten Mohammed) ist dabei nicht so zu verstehen, dass Allah unser Begehen von Fehlern braucht, um eine vollkommene Gottheit zu sein. Es ist eher ein Hinweis darauf, dass es absolut menschlich ist, Fehler zu begehen. Trotzdem versuche ich, diese zu vermeiden, um Allah zufriedenzustellen. Das schenkt mir inneren Frieden.
Fest steht: Ich liebe meine Religion und bin von ihr überzeugt. Nichtsdestotrotz bin ich konstant hin- und hergerissen. Oft fehlt mir das Selbstbewusstsein, meine Religion in Deutschland offen auszuleben. So traue ich mich beispielsweise vielerorts nicht, mit meinem Kopftuch und etwas längeren Klamotten aufzutreten (das trifft nicht unbedingt auf Neukölln, Kreuzberg oder Berlin generell zu).
Auch fürchte ich mich oft, vor „Deutschen“ zu sprechen. Nicht dass ich noch aus Versehen einen Artikel verwechsle und damit bestehende Vorurteile bestätige. Das erzeugt einen unglaublichen Druck, mich immer wieder beweisen zu müssen.
Ich muss also eine Vorzeige-Studentin und
-Bürgerin sein, um von der deutschen, nicht-muslimischen Community angenommen zu werden. Auf der anderen Seite muss ich aber auch eine Vorzeige-Muslima sein, um von der muslimischen Community akzeptiert zu werden. Ich bin irgendwo dazwischen verloren.
Wenn sich eine konkrete Situation auftut, in der ich mich für eine Seite entscheiden muss, handle ich so, wie ich es im jeweiligen Moment als richtig empfinde. Oft fällt mir dann auf, dass es ja noch die andere Seite gibt und ich kriege ein schlechtes Gewissen oder traue mich einfach nicht, meine Meinung klar und offen zu sagen oder mich entsprechend zu verhalten. In den Momenten, in denen ich nicht weiter weiß, wende ich mich an Allah und finde dabei meine Ruhe.
Dieser Zwiespalt ist nicht in allen Punkten gleich stark, denn die Werte des Islams und die der deutschen Kultur sind meiner Meinung nach keine Gegensätze. Muslimisch sein und Deutsch sein ist sehr wohl miteinander vereinbar. Häufig sind es eher die kulturellen als die religiösen Werte, die mit den deutschen Werten nicht vereinbar sind. So bin ich in der Auseinandersetzung mit meiner Religion der Frage nachgegangen, welche der Prinzipien, mit denen ich aufgewachsen bin, kulturell und welche religiös bedingt sind.
Deutlich wird das anhand der Rolle der Frau im Islam. In der muslimischen Religion ist die Frau dem Mann in vielerlei Hinsicht gleichgestellt. Trotzdem wird sie in vielen muslimisch geprägten Ländern unterdrückt und diskriminiert. Es ist wichtig zu erkennen, dass Kulturen, ihre Sitten und Herrschaftsstrukturen gesellschaftlichen Ursprungs und damit grundsätzlich menschengemacht und wandelbar sind. Man kann und muss sie also in Frage stellen. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Wertesystemen und Machtstrukturen führt zu vielfältigen Erfahrungen. Geschlechterrollen, Diskriminierungserfahrungen und Auseinandersetzungen mit staatlicher Gewalt sind einige davon. Diese Erfahrungen sind für die aktive Mitgestaltung in einer demokratischen Gesellschaft elementar wichtig. Sie ermöglichen überhaupt ein gleichberechtigtes Miteinander unabhängig von kulturellem Hintergrund, Geschlecht oder religiöser Zugehörigkeit. Meine Zugehörigkeit zum Islam sollte mich nicht daran hindern, an dieser Mitgestaltung teilhaben zu können. Egal ob diese Teilhabe nun in meinem bevorstehenden Studium der Medizin besteht oder in meiner Partizipation an den „Fridays for Future“-Demonstrationen. Es ist mir wichtig, dass ich nicht aufgrund meines Glaubens daran gehindert werde, damit Allah mich auch weiterhin durch mein Leben begleiten kann.