BURG
Spreewald, ich komm aus dir!
TEXT Marcel Heise & Jakob Weber
FOTOGRAFIE Max Weise
Das große Thermostat an der Hauptstraße zeigt 22 Grad, das kann kaum stimmen. Es viel zu heiß. In einem stickig-schwülen Gallert sitzen wir wie versteinert auf einer Bank am Spreehafen von Burg. Über uns ein geschlossener Deckel aus grauen Wolken.
Das Wasser rauscht gleichtönig vor sich hin und einige Fische schweben in der sanften Strömung, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Der Gondoliere stößt seinen nur halb besetzten Holzkahn mit einem langen Paddel vom Flussbett ab, um kurz darauf lautlos im endlosen Labyrinth aus Bäumen und Wasserstraßen zu verschwinden. Vom Ufer aus wirft ein Mann Lebendfutter in die Spree. Kurz noch zappeln die Würmer und Käfer um ihr Leben, bevor der hungrige Döbel-Schwarm sie verschlingt. Das Mittagessen, das wir im Restaurant „Deutsches Haus“ direkt an der Hauptstraße zu uns genommen haben, liegt noch immer schwer im Magen. Wir müssen weiter.
Auf dem neu gepflasterten „Penny“-Parkplatz üben ein paar Jungs Wheelies und Bunny-Hops mit ihren vollgefederten Mountainbikes, die genauso bunt sind wie die Energy-Drinks, die sie dabei trinken. Ferienzeit in Brandenburg. Bei „Getränke-Hoffmann“ hocken drei Männer am Eingang, drinnen, direkt neben der Kasse. Man kommt nicht drumrum, sich beim Bezahlen und Verlassen des Ladens von ihnen beglotzen zu lassen.
Auf leeren Bierkästen sitzend, nippen sie an kleinen Wodka-Fläschchen, und ein Hündchen flitzt zwischen ihren Beinen umher. In Burg existiert nämlich keine Dorfkneipe.
In den Vorgärten trimmen Rasenmäher-Roboter das saftige Grün. Alles akkurat, alles gestutzt und ordentlich. Wie aus einem druckfrischen Baumarktprospekt erscheint der Ortskern mit seinen Cafés und Modegeschäftchen; „Alles für Sie und Ihn“. In unserer Ferienwohnung singt die Holzvertäfelung im Flur unisono mit Sideboard, Schrank, Bettgestell und den Messingbeschlägen ein leises Lied der Vergangenheit: „Alt wie ein Baum möchte ich werden, genau wie der Dichter es beschreibt.“ Kaum hörbar inmitten der frisch glänzenden, gelben Tapeten, den Ölgemälde-Imitaten und dem hypermodernen, unaufhörlich blinkenden Staubsauger an der Wand, der nur darauf wartet, dass wir verschwinden und hier alles wieder in Ordnung kommt. Vom Balkon aus blickt man auf eine Betonhalle, die nicht so recht passen will zwischen die verklinkerten Fassaden und schimmernden Dächer der Häuser, die sich drumherum drängen und sie einschließen. Einst beherbergte diese Halle das inzwischen geschlossene DDR-Museum.
Langsam, sehr sehr langsam, vergeht der Tag. Es ist immer noch schwül und der Nachbar bürstet jeden Krümel aus der Fußmatte seines übergroßen neuen Volkswagens, während seine Frau jegliches überflüssige Ästchen der Oleandersträuche, Buchsbäume und Rosenhecken präzise mit der Gartenschere abknipst.
Mittlerweile ist es kurz nach 21:00 Uhr, die letzten Gäste verlassen die Spreewaldstuben, die Ochsenecken und Kräutermühlen, und die Schotten werden dicht gemacht. Die nahegelegene Hauptstraße verstummt und auch die Rasenmäher-Roboter machen Feierabend. Nur noch das Zirpen, Quaken und Kauzen des Spreewalds ist zu hören, sonst nichts.
Ich wache auf, betört vom Duft der Plastik-Orchideen. Es gibt gekochte Eier und Toast, bevor wir uns aufmachen, das größte Dorf Deutschlands weiter zu erkunden.
Wieder im Ortskern angekommen, nehmen wir Platz im „Café Geschichtsstübchen“. Neben einer liebevoll-rustikalen Eisenbahn-Modell-Landschaft, zusammengezimmert auf Spanplatten, steht Ingmar Steffen.
Der Inhaber des Cafés in bunt-kariertem Hemd und roten Hosenträgern lächelt freundlich und startet die originalgetreu nachgebaute Lok. Die musste aufgrund des starken Regens kurz pausieren. Hier unterm Gartenpavillon fährt die Deutsche Reichsbahn in Miniatur, vorbei an saftig-grünen Wiesen mit detailliert ausgearbeiteten Heuschobern und reetgedeckten Spreewaldhäusern, die man hier sonst kaum noch findet. Auf Kanälen, gegossen aus Epoxidharz, schippern die typischen Spreewaldkähne. Eine Frau steht hüfttief im Wasser, neben ihr schwimmt ein umgekipptes Paddelboot – alles wie im echten Leben. Herr Steffen erzählt, dass es sich um die sogenannte Spreewaldbahn handelt, eine mehrspurige Schmalspurbahn, die von 1898 bis 1970 zwischen Lübben und Cottbus fuhr. Die Deutsche Reichsbahn war 1945 bis 1993 auf dem Gebiet der DDR in Betrieb. Wir lassen uns den Rhabarberkuchen schmecken, serviert von Herrn Steffen Junior, während der Senior und stolze Miniatureisenbahnbesitzer noch ein Magazin aus dem Keller holt. Sein Werk hat eine Doppelseite im „Gartenbahn“-Magazin erhalten, seine Augen glänzen. Ich muss an Horst Seehofer und seine Freizeitbeschäftigung denken, hier im Spreewald würde er sich wohlfühlen.
Wie schön wäre es, ein Fisch in diesem seichten Gewässer zu sein, das Getöse des Lebens ausblendend, vom Wasserstrom massiert und gestreichelt, auf Lebendfutter wartend.
Wieder schlagen wir am Spreewaldhafen auf, dem Dreh- und Angelpunkt des Ortes. Ich liebe saure Gurken und hatte mir eigentlich vorgenommen, ausschließlich über dieses göttliche Nahrungsmittel zu schreiben. Frage: Gibt es etwas, das man mit Gurken machen kann, außer sie einlegen? Irgendein Rezept? Können Gurken mehr sein als eine würzige Beilage oder ein kleiner Snack? Heute werde ich es nicht rausfinden. Ich kaufe mir eine Honiggurke aus den Holzfässchen am Verkaufsstand am Hafen. Hinten im Kühlschrank sehe ich Gurkenradler stehen – einfach lecker!
Die „Heimatstube“ ist direkt gegenüber ansässig, Marcel entscheidet sich für ein 35-minütiges Informationsgespräch und ich schaue derweil wieder den Döbeln in der Spree zu. Wie schön wäre es, ein Fisch in diesem seichten Gewässer zu sein, das Getöse des Lebens ausblendend, vom Wasserstrom massiert und gestreichelt, auf Lebendfutter wartend.
Es wird Abend, die Kirchturmuhr zeigt kurz vor acht, der Magen knurrt, wir haben Heimweh.
Auf zur Dönerbude an der Hauptstraße. Tatsächlich treffen wir dort auch Arsan aus Neukölln, den Neffen des Betreibers. Der 16-jährige macht Landurlaub bei seinem Onkel und serviert uns den besten Dorf-Döner aller Zeiten. Als er auch sein Abendessen und das seines Cousins fertig zubereitet hat, setzt er sich zu uns an den Nachbartisch. Nächste Woche geht es mit der ganzen Familie in die Türkei. Ein letzter richtiger Urlaub, bevor er seine Ausbildung zum Anlagenmechaniker bei den Berliner Wasserbetrieben beginnt.
Mit ihm am Tisch sitzt ein schwerer Mann mit roten Wangen und einer Flasche Berliner Pilsener in der Hand – er überlegt lange, als wir ihn fragen, ob es eine Kneipe hier im Dorf gibt. Ihm fällt auch nichts ein.
Wir beraten Arsan noch kurz in Sachen Work-Life-Balance und verabschieden uns. Das Sportlerheim vom SG Burg ist der einzige Ort, an dem wir jetzt noch auf ein gezapftes Bier und ein paar Burgler*innen hoffen dürfen.
Vereine, das sollen ja wichtige soziale Bindeglieder innerhalb der deutschen Gesellschaft sein. Schon von weitem verspricht der Blick über den frischen Rasenplatz zumindest eine kleine Ansammlung von Menschen, die gesellig unter einem aufgespannten Sonnenschirm sitzen. Vor dem Mannschaftsheim stehen zwei Bierzeltgarnituren. Ein, zwei dutzend Burgler*innen sitzen hier, direkt unter einem geöffneten Fenster, durch das die Wirtin unsere Bestellung aufnimmt. Während sie uns drei Biere zapft, erzählt sie, dass sie morgen auf einem achtzigsten Geburtstag eingeladen sei, doch leider sei das Geburtstagskind diese Woche verstorben. Wir setzen uns etwas abseits auf eine der Betonbänke zwischen Bierzeltgarnitur, Kabineneingängen und Spielfeldrand. Ein Mann, auf dessen T-Shirt „Trainer der Herzen“ steht, raucht eine Kippe nach der anderen, und hinter uns, in der Mitte des Fußballplatzes, versammeln sich die Kinder. Ein schüchterner, schwarz-weißer Hund läuft vor uns auf und ab. Er scheint uns ebenso zu ignorieren wie alle anderen hier auch. Die ersten zwei Stunden verbringen wir damit, abseits zu sitzen, während sich vor uns ein heiterer Abend abspielt.
Morgen steht das alles in der BILD
Ist das hier schon unser Feierabend? NEIN! Wir bestellen noch eine Runde, denn Bier, das weiß ja nun wirklich jede*r, Bier ist das wahre soziale Bindeglied. „Und deswegen macht man Sport. Damit man mehr saufen kann!!!“, tönt es von der Bierzeltgarnitur zu uns herüber. Waltraud poliert Gläser und ist merklich müde, als wir drei uns nach drinnen begeben und uns an den Tresen setzen. Die braunen Wände sind geschmückt mit den Errungenschaften des Vereinslebens: Wimpel und Fotos berichten aus den vergangenen Jahrzehnten, und am anderen Ende des Raums steht eine weiß gedeckte Tafel, mit Platz für mindestens drei Fußballmannschaften.
Es ist bereits dunkel, aber die geborene Gastgeberin bleibt, solange es die Gäste wünschen, und erzählt von Vereinsstrukturen, von der Skatgruppe vom gestrigen Abend, den Billardspielern, den Hochzeiten im Vereinsheim, die sie fast alleine schmeißt, und dem Neffen unseres Ferienhaus-Gastgebers. Der gehört nämlich auch zur trinkenden Gruppe vor der Tür. Eine erste, vorsichtige Annäherung, aber die Burgler*innen bleiben skeptisch. Drei fremde Männer, was die wohl wollen? Irgendwie rührend.
Waltraud erzählt, dass eines der Kinder kurz nach unserer Ankunft an den Tresen kam und fragte, ob sie lieber alle noch bleiben sollen, bis diese drei Männer verschwinden. Wir wurden also doch aufmerksam beobachtet. Auch verständlich, dass die Vereinsmitglieder ihre heißgeliebte Wirtin nicht mit den drei Unbekannten allein lassen wollen. Waltraud versichert uns, sie habe sich keine Sorgen gemacht. Aber was müssen wir tun, um echte Burgler zu werden? Wie funktioniert das? Ohne Bier jedenfalls nicht! Jetzt kommen die übriggebliebenen Mutigen zu uns in den Gastraum, bevölkern die Theke, einer schwingt sich auf eines der am Eingang abgestellten Fahrräder und radelt singend übers graue Linoleum, vorbei an der langen Tafel. Ein Wunder, dass er diesen Stunt überlebt. Wir sind angekommen, es herrscht freundschaftliches Miteinander, noch einige Biere werden bestellt, ein Würfelspiel gespielt, das Ziel ist erreicht, doch die Skepsis bleibt den Burgler*innen ins Gesicht gemalt – höchste Zeit, abzuhauen. „Tschüss!“
Morgen steht das alles in der BILD, da sind sie hier alle einer Meinung.
Es riecht nach frisch gemähtem Heu. Einige Störche staksen über das Feld und picken die aufgescheuchten Insekten vom Boden auf, um ihre Brut zu füttern. Milane kreisen geduldig am Himmel, und auch zwei pechschwarze Raben lassen sich dieses Festessen nicht entgehen. Gleich neben den gemähten Spreewaldwiesen liegt der Koigarten des Alten Fritz, bürgerlicher Name: Dr. Eckhard Albert, Pathologe im Ruhestand. Gegen den Willen seiner Frau lässt Fritz sich sein graues Haar wieder zu einem langen Zopf wachsen. „Ich bin Preuße“, sagt er, seinen riesigen Körper auf eine medizinische Krücke gelehnt, während er mit der anderen Hand mit einem zu seinem etwas pappig-steif wirkenden Preußenkostüm passenden Gehstock hantiert. Sein echtes Haar ist unter einer Perücke versteckt, noch zu kurz für einen richtigen Preußenzopf.
Ein Wasserfall stürzt an einem künstlichen Felsen hinab in einen der Koiteiche. Der von einer Hüftoperation etwas geschwächte Fritz führt uns durch sein 16.000 qm umfassendes Reich. Die schmalen Pfade winden sich entlang japanischer Ahornbäume, Buddha-Statuen, thailändischer Gottheiten, südostasiatischer Tempel-Miniaturen, Zentauren und steinerner Büsten von Friedrich dem Großen. Die Pflege all dessen obliegt zwei Gärtnern.
Der echte Alte Fritz alias Friedrich der Große entsandte, wie sein Vater Friedrich I., seine ehemaligen Militärs in den Spreewald, um zu siedeln und das Reich der Preußen zu erweitern. So wurde aus dem unzugänglichen Sumpfland eine landwirtschaftlich nutzbare Region mit kleinen Orten und verstreuten Siedlungen. Dr. Eckhard gefällt am Preußenkönig vor allem aber dessen Vorliebe für chinesisch anmutende Gartengestaltung, was – im barocken achtzehnten Jahrhundert – auf die Handelsbeziehungen und kolonialen Interessen zwischen Europa und China zurückzuführen ist. Die Europäer horteten Luxusgüter aus China und ließen auf ihren Seglern sogar Künstler mitreisen, die neue Eindrücke nach Europa importieren sollten.
Das Restaurant in seinem hiesigen Ziergarten nennt der Doktor „Teehaus“. Denn, ja, auch der Alte Fritz ließ sich ein eigenes Teehaus in Sanssouci erbauen. Es scheint, als seien kulturelle Aneignung und kolonialistischer Gestus an diesem Ort kein Thema, und irgendwie realisiert Dr. Eckhard seinen Größenwahn nicht, wenn er von seinem preußischen Vorbild schwärmt oder von seinen weiten Reisen, die er nicht nur in großformatigen Fotos festhält, sondern auch in Form steinerner Statuen in seinem Garten verewigt, damit Spreewaldtourist*innen sich an ihnen begeistern.
Die Genehmigung für diese Kreuzung aus Ziergarten und Statussymbol erhielt der Doktor aufgrund seines Anspruchs auf Geschichtsvermittlung, dem er mit seinem Koigarten gerecht wird. Jeden zweiten Samstag führt er, verkleidet in seiner Kostümierung als Alter Fritz, über sein Anwesen und erzählt von den Preußen und der Besiedlung des Spreewalds. Sein Labor habe er verkauft und sogar die Lebensversicherung seiner Frau sei angezapft worden, um diesen privaten Freizeitpark zu erschaffen. Neben dem Restaurant führt eine Wendeltreppe auf das Dach des Toilettenhäuschens. Hier soll bald noch ein Biergarten entstehen.
Spreewald – das steht vor allem für schmale Kanäle, auf denen lange Holzkähne an grasenden Kühen vorbeituckern. Also auf zum Bootsverleih „Rehnus“. Ein Geheimtipp unserer neuen Freund*innen von der SG Burg aus dem Mannschaftsheim von gestern Abend, den wir eigentlich nicht verraten sollten. Die Parkplatzsuche dauert, es hat sich wohl doch schon rumgesprochen.
Als das Boot dann endlich zu Wasser gelassen wird, bekommen wir noch eine laminierte Spree-Karte in die Hand gedrückt, quetschen uns vorbei an den paddelnden Menschenmassen, bis wir schließlich einen ruhigen Seitenarm finden. Wahrscheinlich sind wir die gemütlichsten Kanufahrer, die der Spreewald je gesehen hat, und wir nehmen uns Zeit, jede der umhersausenden, blauschimmernden Libellen zu beobachten. Nach 15 Minuten steigen wir aus und stehen auf einer Wiese, die aussieht wie ein Filmset aus „Jurassic-Park“. Neben mehreren Dinosaurierfladen nehmen wir Platz auf einer dreißig Meter langen umgestürzten Eiche und picknicken. Dicke, dunkle Wolken verdichten sich, wir fahren lieber wieder flussabwärts Richtung Bootsverleih. Eine längere Wartepause an einer Schleuse verbringe ich damit, einem eifrigen Teenager dabei zuzuschauen, wie er das Schleusentor mit hochrotem Kopf hochkurbelt. „Schleusenwärter groß und klein, wir lassen Sie in die Schleuse rein. Wir lassen Sie auch wieder raus und hoffen, Sie geben einen aus. Ist uns’re Arbeit dann getan, recht gute Fahrt im Spreewaldkahn. Wird weniger gegeben als vermutet, wird der Kahn sofort geflutet!“
Gefangen zwischen Betonmauern, Stahltoren, anderen bunten Paddelbooten und dem undurchsichtigen Spreewasser greife ich zum Portemonnaie und spendiere dem Boy sein Abendessen. Lass es dir schmecken!
Hinter den vielen kleinen Türen befanden sich einst 36 Bienenvölker. Wie in einem Wohnhaus lebten sie hier, Tür an Tür, und labten sich an der Blütenpracht im Garten. Nur vor einem einzigen der 36 ockerfarbenen Fächer fliegen noch Bienen umher. Honig gibt es keinen mehr.
Etwas außerhalb des Ortes, fernab der Hauptstraße, in einer der unzähligen Nebenstraßen, die zwischen den scheinbar leeren, von Bäumen gesäumten Feldern in weitere unzählige Nebenstraßen führt, die sich wiederum immer weiter verzweigen, liegt die Trachtenstickerei von Christiane und Dieter Dziumbla. Aus einem Zwinger kläfft ein schwarzer, strubbeliger Hund, darauf wartend, dass er endlich über das riesige Grundstück rennen darf. Frau Dziumbla führt uns in das kleinere der zwei noch von Hand gemauerten Bauernhäuser, dessen kühles Inneres ein Museum und eine Stickerei beherbergt. Vergangenheit und Gegenwart wachsen ineinander, untrennbar, alles scheint lebendig und eingefroren zugleich. All diese Stoffe, teilweise mehrere Meter lang, werden geduldig von Hand bestickt, mit aufwändigen, farbenfrohen Blumenmustern, angelehnt an originale Trachten von Frau Dziumblas Großmutter.
Hunderte Augenpaare starren uns an, Puppen verschiedenster Größen mit ausladenden Kopfbedeckungen, riesigen Röcken und opulenten Blusen, für jeden Anlass mit unterschiedlichen Mustern bestickt und in anderen Formen gestaltet. Es sind traditionelle Trachten der slawischen Volksstämme im Spreewald – der Sorben. Unklar ist, wie viele Sorb*innen es offiziell noch in der Lausitz gibt, denn diese Zugehörigkeit wird in keinem offiziellen Dokument vermerkt. Schätzungsweise leben in der Region derzeit circa 60.000 Menschen, die sich selbst als Sorb*innen bezeichnen. Am Vortag erfuhr ich von Barbara Schlüter, Leiterin der „Heimatstube“ am Burger Spreehafen und Tochter von Christiane und Dieter Dziumbla, dass nicht nur die Straßenschilder und Ortsnamen wieder zweisprachig beschriftet werden. Es gibt eine eigene Wochenzeitung auf Sorbisch, ein Programm im RBB sendet regelmäßig in sorbischer Sprache und in Kindergärten und Schulen wird diese Sprache wieder aktiv unterrichtet. Schreiben sich Studierende an der Universität Leipzig für das Fach Sorabistik ein, zahlt das Land Brandenburg ihnen eine Prämie. Irgendwie hat diese Minderheit es geschafft, trotz aller Umstände und fast unbeachtet, weiter zu existieren. Ohne je einen eigenen Staat gegründet zu haben, überstanden die Sorben die Eingliederung ins Deutsche Kaiserreich, die Verbrechen der Nazis und die Minderheitenpolitik in der DDR.
In einem Verschlag direkt neben der Stickerei steigt uns beim Öffnen der Holztür der Geruch von Lack und Öl in die Nase. Hier flicht Dieter Dziumbla Weidenkörbe, die sich in allen erdenklichen Größen bis zur Decke stapeln. Für jeden fertigen Korb hat er in seine Werkbank eine Kerbe geritzt. Hinterm Haus, neben dem kleinen Fischteich, an dem sich in den frühen Morgenstunden manchmal die scheuen Eisvögel treffen, steht ein riesiges Bienenhaus. Hinter den vielen kleinen Türen befanden sich einst 36 Bienenvölker. Wie in einem Wohnhaus lebten sie hier, Tür an Tür, und labten sich an der Blütenpracht im Garten. Nur vor einem einzigen der 36 ockerfarbenen Fächer fliegen noch Bienen umher. Honig gibt es keinen mehr. Das liegt an der Räuberei durch die nahegelegenen Völker, an eingeschleppten Hornissen und auch an den Großstadt-Imker*innen mit ihren mobilen Bienenkisten. Es gibt kaum noch Kontrollen durch Tierärzt*innen und Gesundheitsämter in der Region, erklärt Herr Dziumbla, daher brächten vor allem Imker*innen aus dem nahegelegenen Berlin ihre kranken Bienenvölker einfach in den Spreewald. Faulbruten nennt man das. Und diese Bienen befallen dann auch die gesunden Bienen.
Der anfangs noch so stille Herr Dziumbla erinnert sich an jede noch so kleine Veränderung der Ökologie im Spreewald. Er weiß, seit wann die Spree nicht mehr gefriert, erinnert sich daran, wie seine Haut plötzlich brannte, als er in seiner Jugend in den Fluss sprang, und beobachtet heute, wie Industrie und Landwirtschaft ihm illegal Wasser entnehmen, bis die Spree irgendwann austrocknen wird und die Wasserarme immer weniger Fische führen, auch nicht zuletzt wegen der vielen Tourist*innen mit ihren Paddelbooten.
Vor der Abreise machen wir noch einen letzten Stop auf dem Flohmarkt beim Bismarckturm. Hier ist sie also zu finden, die DDR-Nostalgie. Fast jeden der Tische zieren Briefmarkensammlungen, Landkarten, Stehleuchten: Memorabilia im Überfluss. Die Hitze lässt den ollen Muff aus den Kartons und Kisten aufsteigen, und ein Mann mit eindeutig verfassungsfeindlicher Körperbemalung und Oakley-Sonnenbrille schaut sich in aller Ruhe die Messing-Gießkannen an. Ob der wohl auch einen Mäh-Roboter sein Eigen nennt?
Naja, ansonsten war ja wirklich alles sehr, sehr ruhig hier, und auf der Heimfahrt habe ich noch immer Herbert Grönemeyer im Ohr, wie er keift: „Spreewald ich komm aus dir!“
BURG
Spreewald, ich komm aus dir!
TEXT Marcel Heise & Jakob Weber
FOTOGRAFIE Max Weise
Das große Thermostat an der Hauptstraße zeigt 22 Grad, das kann kaum stimmen. Es viel zu heiß. In einem stickig-schwülen Gallert sitzen wir wie versteinert auf einer Bank am Spreehafen von Burg. Über uns ein geschlossener Deckel aus grauen Wolken.
Das Wasser rauscht gleichtönig vor sich hin und einige Fische schweben in der sanften Strömung, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Der Gondoliere stößt seinen nur halb besetzten Holzkahn mit einem langen Paddel vom Flussbett ab, um kurz darauf lautlos im endlosen Labyrinth aus Bäumen und Wasserstraßen zu verschwinden. Vom Ufer aus wirft ein Mann Lebendfutter in die Spree. Kurz noch zappeln die Würmer und Käfer um ihr Leben, bevor der hungrige Döbel-Schwarm sie verschlingt. Das Mittagessen, das wir im Restaurant „Deutsches Haus“ direkt an der Hauptstraße zu uns genommen haben, liegt noch immer schwer im Magen. Wir müssen weiter.
Auf dem neu gepflasterten „Penny“-Parkplatz üben ein paar Jungs Wheelies und Bunny-Hops mit ihren vollgefederten Mountainbikes, die genauso bunt sind wie die Energy-Drinks, die sie dabei trinken. Ferienzeit in Brandenburg. Bei „Getränke-Hoffmann“ hocken drei Männer am Eingang, drinnen, direkt neben der Kasse. Man kommt nicht drumrum, sich beim Bezahlen und Verlassen des Ladens von ihnen beglotzen zu lassen.
Auf leeren Bierkästen sitzend, nippen sie an kleinen Wodka-Fläschchen, und ein Hündchen flitzt zwischen ihren Beinen umher. In Burg existiert nämlich keine Dorfkneipe.
In den Vorgärten trimmen Rasenmäher-Roboter das saftige Grün. Alles akkurat, alles gestutzt und ordentlich. Wie aus einem druckfrischen Baumarktprospekt erscheint der Ortskern mit seinen Cafés und Modegeschäftchen; „Alles für Sie und Ihn“. In unserer Ferienwohnung singt die Holzvertäfelung im Flur unisono mit Sideboard, Schrank, Bettgestell und den Messingbeschlägen ein leises Lied der Vergangenheit: „Alt wie ein Baum möchte ich werden, genau wie der Dichter es beschreibt.“ Kaum hörbar inmitten der frisch glänzenden, gelben Tapeten, den Ölgemälde-Imitaten und dem hypermodernen, unaufhörlich blinkenden Staubsauger an der Wand, der nur darauf wartet, dass wir verschwinden und hier alles wieder in Ordnung kommt. Vom Balkon aus blickt man auf eine Betonhalle, die nicht so recht passen will zwischen die verklinkerten Fassaden und schimmernden Dächer der Häuser, die sich drumherum drängen und sie einschließen. Einst beherbergte diese Halle das inzwischen geschlossene DDR-Museum.
Langsam, sehr sehr langsam, vergeht der Tag. Es ist immer noch schwül und der Nachbar bürstet jeden Krümel aus der Fußmatte seines übergroßen neuen Volkswagens, während seine Frau jegliches überflüssige Ästchen der Oleandersträuche, Buchsbäume und Rosenhecken präzise mit der Gartenschere abknipst.
Mittlerweile ist es kurz nach 21:00 Uhr, die letzten Gäste verlassen die Spreewaldstuben, die Ochsenecken und Kräutermühlen, und die Schotten werden dicht gemacht. Die nahegelegene Hauptstraße verstummt und auch die Rasenmäher-Roboter machen Feierabend. Nur noch das Zirpen, Quaken und Kauzen des Spreewalds ist zu hören, sonst nichts.
Ich wache auf, betört vom Duft der Plastik-Orchideen. Es gibt gekochte Eier und Toast, bevor wir uns aufmachen, das größte Dorf Deutschlands weiter zu erkunden.
Wieder im Ortskern angekommen, nehmen wir Platz im „Café Geschichtsstübchen“. Neben einer liebevoll-rustikalen Eisenbahn-Modell-Landschaft, zusammengezimmert auf Spanplatten, steht Ingmar Steffen.
Der Inhaber des Cafés in bunt-kariertem Hemd und roten Hosenträgern lächelt freundlich und startet die originalgetreu nachgebaute Lok. Die musste aufgrund des starken Regens kurz pausieren. Hier unterm Gartenpavillon fährt die Deutsche Reichsbahn in Miniatur, vorbei an saftig-grünen Wiesen mit detailliert ausgearbeiteten Heuschobern und reetgedeckten Spreewaldhäusern, die man hier sonst kaum noch findet. Auf Kanälen, gegossen aus Epoxidharz, schippern die typischen Spreewaldkähne. Eine Frau steht hüfttief im Wasser, neben ihr schwimmt ein umgekipptes Paddelboot – alles wie im echten Leben. Herr Steffen erzählt, dass es sich um die sogenannte Spreewaldbahn handelt, eine mehrspurige Schmalspurbahn, die von 1898 bis 1970 zwischen Lübben und Cottbus fuhr. Die Deutsche Reichsbahn war 1945 bis 1993 auf dem Gebiet der DDR in Betrieb. Wir lassen uns den Rhabarberkuchen schmecken, serviert von Herrn Steffen Junior, während der Senior und stolze Miniatureisenbahnbesitzer noch ein Magazin aus dem Keller holt. Sein Werk hat eine Doppelseite im „Gartenbahn“-Magazin erhalten, seine Augen glänzen. Ich muss an Horst Seehofer und seine Freizeitbeschäftigung denken, hier im Spreewald würde er sich wohlfühlen.
Wie schön wäre es, ein Fisch in diesem seichten Gewässer zu sein, das Getöse des Lebens ausblendend, vom Wasserstrom massiert und gestreichelt, auf Lebendfutter wartend.
Wieder schlagen wir am Spreewaldhafen auf, dem Dreh- und Angelpunkt des Ortes. Ich liebe saure Gurken und hatte mir eigentlich vorgenommen, ausschließlich über dieses göttliche Nahrungsmittel zu schreiben. Frage: Gibt es etwas, das man mit Gurken machen kann, außer sie einlegen? Irgendein Rezept? Können Gurken mehr sein als eine würzige Beilage oder ein kleiner Snack? Heute werde ich es nicht rausfinden. Ich kaufe mir eine Honiggurke aus den Holzfässchen am Verkaufsstand am Hafen. Hinten im Kühlschrank sehe ich Gurkenradler stehen – einfach lecker!
Die „Heimatstube“ ist direkt gegenüber ansässig, Marcel entscheidet sich für ein 35-minütiges Informationsgespräch und ich schaue derweil wieder den Döbeln in der Spree zu. Wie schön wäre es, ein Fisch in diesem seichten Gewässer zu sein, das Getöse des Lebens ausblendend, vom Wasserstrom massiert und gestreichelt, auf Lebendfutter wartend.
Es wird Abend, die Kirchturmuhr zeigt kurz vor acht, der Magen knurrt, wir haben Heimweh.
Auf zur Dönerbude an der Hauptstraße. Tatsächlich treffen wir dort auch Arsan aus Neukölln, den Neffen des Betreibers. Der 16-jährige macht Landurlaub bei seinem Onkel und serviert uns den besten Dorf-Döner aller Zeiten. Als er auch sein Abendessen und das seines Cousins fertig zubereitet hat, setzt er sich zu uns an den Nachbartisch. Nächste Woche geht es mit der ganzen Familie in die Türkei. Ein letzter richtiger Urlaub, bevor er seine Ausbildung zum Anlagenmechaniker bei den Berliner Wasserbetrieben beginnt.
Mit ihm am Tisch sitzt ein schwerer Mann mit roten Wangen und einer Flasche Berliner Pilsener in der Hand – er überlegt lange, als wir ihn fragen, ob es eine Kneipe hier im Dorf gibt. Ihm fällt auch nichts ein.
Wir beraten Arsan noch kurz in Sachen Work-Life-Balance und verabschieden uns. Das Sportlerheim vom SG Burg ist der einzige Ort, an dem wir jetzt noch auf ein gezapftes Bier und ein paar Burgler*innen hoffen dürfen.
Vereine, das sollen ja wichtige soziale Bindeglieder innerhalb der deutschen Gesellschaft sein. Schon von weitem verspricht der Blick über den frischen Rasenplatz zumindest eine kleine Ansammlung von Menschen, die gesellig unter einem aufgespannten Sonnenschirm sitzen. Vor dem Mannschaftsheim stehen zwei Bierzeltgarnituren. Ein, zwei dutzend Burgler*innen sitzen hier, direkt unter einem geöffneten Fenster, durch das die Wirtin unsere Bestellung aufnimmt. Während sie uns drei Biere zapft, erzählt sie, dass sie morgen auf einem achtzigsten Geburtstag eingeladen sei, doch leider sei das Geburtstagskind diese Woche verstorben. Wir setzen uns etwas abseits auf eine der Betonbänke zwischen Bierzeltgarnitur, Kabineneingängen und Spielfeldrand. Ein Mann, auf dessen T-Shirt „Trainer der Herzen“ steht, raucht eine Kippe nach der anderen, und hinter uns, in der Mitte des Fußballplatzes, versammeln sich die Kinder. Ein schüchterner, schwarz-weißer Hund läuft vor uns auf und ab. Er scheint uns ebenso zu ignorieren wie alle anderen hier auch. Die ersten zwei Stunden verbringen wir damit, abseits zu sitzen, während sich vor uns ein heiterer Abend abspielt.
Morgen steht das alles in der BILD
Ist das hier schon unser Feierabend? NEIN! Wir bestellen noch eine Runde, denn Bier, das weiß ja nun wirklich jede*r, Bier ist das wahre soziale Bindeglied. „Und deswegen macht man Sport. Damit man mehr saufen kann!!!“, tönt es von der Bierzeltgarnitur zu uns herüber. Waltraud poliert Gläser und ist merklich müde, als wir drei uns nach drinnen begeben und uns an den Tresen setzen. Die braunen Wände sind geschmückt mit den Errungenschaften des Vereinslebens: Wimpel und Fotos berichten aus den vergangenen Jahrzehnten, und am anderen Ende des Raums steht eine weiß gedeckte Tafel, mit Platz für mindestens drei Fußballmannschaften.
Es ist bereits dunkel, aber die geborene Gastgeberin bleibt, solange es die Gäste wünschen, und erzählt von Vereinsstrukturen, von der Skatgruppe vom gestrigen Abend, den Billardspielern, den Hochzeiten im Vereinsheim, die sie fast alleine schmeißt, und dem Neffen unseres Ferienhaus-Gastgebers. Der gehört nämlich auch zur trinkenden Gruppe vor der Tür. Eine erste, vorsichtige Annäherung, aber die Burgler*innen bleiben skeptisch. Drei fremde Männer, was die wohl wollen? Irgendwie rührend.
Waltraud erzählt, dass eines der Kinder kurz nach unserer Ankunft an den Tresen kam und fragte, ob sie lieber alle noch bleiben sollen, bis diese drei Männer verschwinden. Wir wurden also doch aufmerksam beobachtet. Auch verständlich, dass die Vereinsmitglieder ihre heißgeliebte Wirtin nicht mit den drei Unbekannten allein lassen wollen. Waltraud versichert uns, sie habe sich keine Sorgen gemacht. Aber was müssen wir tun, um echte Burgler zu werden? Wie funktioniert das? Ohne Bier jedenfalls nicht! Jetzt kommen die übriggebliebenen Mutigen zu uns in den Gastraum, bevölkern die Theke, einer schwingt sich auf eines der am Eingang abgestellten Fahrräder und radelt singend übers graue Linoleum, vorbei an der langen Tafel. Ein Wunder, dass er diesen Stunt überlebt. Wir sind angekommen, es herrscht freundschaftliches Miteinander, noch einige Biere werden bestellt, ein Würfelspiel gespielt, das Ziel ist erreicht, doch die Skepsis bleibt den Burgler*innen ins Gesicht gemalt – höchste Zeit, abzuhauen. „Tschüss!“
Morgen steht das alles in der BILD, da sind sie hier alle einer Meinung.
Es riecht nach frisch gemähtem Heu. Einige Störche staksen über das Feld und picken die aufgescheuchten Insekten vom Boden auf, um ihre Brut zu füttern. Milane kreisen geduldig am Himmel, und auch zwei pechschwarze Raben lassen sich dieses Festessen nicht entgehen. Gleich neben den gemähten Spreewaldwiesen liegt der Koigarten des Alten Fritz, bürgerlicher Name: Dr. Eckhard Albert, Pathologe im Ruhestand. Gegen den Willen seiner Frau lässt Fritz sich sein graues Haar wieder zu einem langen Zopf wachsen. „Ich bin Preuße“, sagt er, seinen riesigen Körper auf eine medizinische Krücke gelehnt, während er mit der anderen Hand mit einem zu seinem etwas pappig-steif wirkenden Preußenkostüm passenden Gehstock hantiert. Sein echtes Haar ist unter einer Perücke versteckt, noch zu kurz für einen richtigen Preußenzopf.
Ein Wasserfall stürzt an einem künstlichen Felsen hinab in einen der Koiteiche. Der von einer Hüftoperation etwas geschwächte Fritz führt uns durch sein 16.000 qm umfassendes Reich. Die schmalen Pfade winden sich entlang japanischer Ahornbäume, Buddha-Statuen, thailändischer Gottheiten, südostasiatischer Tempel-Miniaturen, Zentauren und steinerner Büsten von Friedrich dem Großen. Die Pflege all dessen obliegt zwei Gärtnern.
Der echte Alte Fritz alias Friedrich der Große entsandte, wie sein Vater Friedrich I., seine ehemaligen Militärs in den Spreewald, um zu siedeln und das Reich der Preußen zu erweitern. So wurde aus dem unzugänglichen Sumpfland eine landwirtschaftlich nutzbare Region mit kleinen Orten und verstreuten Siedlungen. Dr. Eckhard gefällt am Preußenkönig vor allem aber dessen Vorliebe für chinesisch anmutende Gartengestaltung, was – im barocken achtzehnten Jahrhundert – auf die Handelsbeziehungen und kolonialen Interessen zwischen Europa und China zurückzuführen ist. Die Europäer horteten Luxusgüter aus China und ließen auf ihren Seglern sogar Künstler mitreisen, die neue Eindrücke nach Europa importieren sollten.
Das Restaurant in seinem hiesigen Ziergarten nennt der Doktor „Teehaus“. Denn, ja, auch der Alte Fritz ließ sich ein eigenes Teehaus in Sanssouci erbauen. Es scheint, als seien kulturelle Aneignung und kolonialistischer Gestus an diesem Ort kein Thema, und irgendwie realisiert Dr. Eckhard seinen Größenwahn nicht, wenn er von seinem preußischen Vorbild schwärmt oder von seinen weiten Reisen, die er nicht nur in großformatigen Fotos festhält, sondern auch in Form steinerner Statuen in seinem Garten verewigt, damit Spreewaldtourist*innen sich an ihnen begeistern.
Die Genehmigung für diese Kreuzung aus Ziergarten und Statussymbol erhielt der Doktor aufgrund seines Anspruchs auf Geschichtsvermittlung, dem er mit seinem Koigarten gerecht wird. Jeden zweiten Samstag führt er, verkleidet in seiner Kostümierung als Alter Fritz, über sein Anwesen und erzählt von den Preußen und der Besiedlung des Spreewalds. Sein Labor habe er verkauft und sogar die Lebensversicherung seiner Frau sei angezapft worden, um diesen privaten Freizeitpark zu erschaffen. Neben dem Restaurant führt eine Wendeltreppe auf das Dach des Toilettenhäuschens. Hier soll bald noch ein Biergarten entstehen.
Spreewald – das steht vor allem für schmale Kanäle, auf denen lange Holzkähne an grasenden Kühen vorbeituckern. Also auf zum Bootsverleih „Rehnus“. Ein Geheimtipp unserer neuen Freund*innen von der SG Burg aus dem Mannschaftsheim von gestern Abend, den wir eigentlich nicht verraten sollten. Die Parkplatzsuche dauert, es hat sich wohl doch schon rumgesprochen.
Als das Boot dann endlich zu Wasser gelassen wird, bekommen wir noch eine laminierte Spree-Karte in die Hand gedrückt, quetschen uns vorbei an den paddelnden Menschenmassen, bis wir schließlich einen ruhigen Seitenarm finden. Wahrscheinlich sind wir die gemütlichsten Kanufahrer, die der Spreewald je gesehen hat, und wir nehmen uns Zeit, jede der umhersausenden, blauschimmernden Libellen zu beobachten. Nach 15 Minuten steigen wir aus und stehen auf einer Wiese, die aussieht wie ein Filmset aus „Jurassic-Park“. Neben mehreren Dinosaurierfladen nehmen wir Platz auf einer dreißig Meter langen umgestürzten Eiche und picknicken. Dicke, dunkle Wolken verdichten sich, wir fahren lieber wieder flussabwärts Richtung Bootsverleih. Eine längere Wartepause an einer Schleuse verbringe ich damit, einem eifrigen Teenager dabei zuzuschauen, wie er das Schleusentor mit hochrotem Kopf hochkurbelt. „Schleusenwärter groß und klein, wir lassen Sie in die Schleuse rein. Wir lassen Sie auch wieder raus und hoffen, Sie geben einen aus. Ist uns’re Arbeit dann getan, recht gute Fahrt im Spreewaldkahn. Wird weniger gegeben als vermutet, wird der Kahn sofort geflutet!“
Gefangen zwischen Betonmauern, Stahltoren, anderen bunten Paddelbooten und dem undurchsichtigen Spreewasser greife ich zum Portemonnaie und spendiere dem Boy sein Abendessen. Lass es dir schmecken!
Hinter den vielen kleinen Türen befanden sich einst 36 Bienenvölker. Wie in einem Wohnhaus lebten sie hier, Tür an Tür, und labten sich an der Blütenpracht im Garten. Nur vor einem einzigen der 36 ockerfarbenen Fächer fliegen noch Bienen umher. Honig gibt es keinen mehr.
Etwas außerhalb des Ortes, fernab der Hauptstraße, in einer der unzähligen Nebenstraßen, die zwischen den scheinbar leeren, von Bäumen gesäumten Feldern in weitere unzählige Nebenstraßen führt, die sich wiederum immer weiter verzweigen, liegt die Trachtenstickerei von Christiane und Dieter Dziumbla. Aus einem Zwinger kläfft ein schwarzer, strubbeliger Hund, darauf wartend, dass er endlich über das riesige Grundstück rennen darf. Frau Dziumbla führt uns in das kleinere der zwei noch von Hand gemauerten Bauernhäuser, dessen kühles Inneres ein Museum und eine Stickerei beherbergt. Vergangenheit und Gegenwart wachsen ineinander, untrennbar, alles scheint lebendig und eingefroren zugleich. All diese Stoffe, teilweise mehrere Meter lang, werden geduldig von Hand bestickt, mit aufwändigen, farbenfrohen Blumenmustern, angelehnt an originale Trachten von Frau Dziumblas Großmutter.
Hunderte Augenpaare starren uns an, Puppen verschiedenster Größen mit ausladenden Kopfbedeckungen, riesigen Röcken und opulenten Blusen, für jeden Anlass mit unterschiedlichen Mustern bestickt und in anderen Formen gestaltet. Es sind traditionelle Trachten der slawischen Volksstämme im Spreewald – der Sorben. Unklar ist, wie viele Sorb*innen es offiziell noch in der Lausitz gibt, denn diese Zugehörigkeit wird in keinem offiziellen Dokument vermerkt. Schätzungsweise leben in der Region derzeit circa 60.000 Menschen, die sich selbst als Sorb*innen bezeichnen. Am Vortag erfuhr ich von Barbara Schlüter, Leiterin der „Heimatstube“ am Burger Spreehafen und Tochter von Christiane und Dieter Dziumbla, dass nicht nur die Straßenschilder und Ortsnamen wieder zweisprachig beschriftet werden. Es gibt eine eigene Wochenzeitung auf Sorbisch, ein Programm im RBB sendet regelmäßig in sorbischer Sprache und in Kindergärten und Schulen wird diese Sprache wieder aktiv unterrichtet. Schreiben sich Studierende an der Universität Leipzig für das Fach Sorabistik ein, zahlt das Land Brandenburg ihnen eine Prämie. Irgendwie hat diese Minderheit es geschafft, trotz aller Umstände und fast unbeachtet, weiter zu existieren. Ohne je einen eigenen Staat gegründet zu haben, überstanden die Sorben die Eingliederung ins Deutsche Kaiserreich, die Verbrechen der Nazis und die Minderheitenpolitik in der DDR.
In einem Verschlag direkt neben der Stickerei steigt uns beim Öffnen der Holztür der Geruch von Lack und Öl in die Nase. Hier flicht Dieter Dziumbla Weidenkörbe, die sich in allen erdenklichen Größen bis zur Decke stapeln. Für jeden fertigen Korb hat er in seine Werkbank eine Kerbe geritzt. Hinterm Haus, neben dem kleinen Fischteich, an dem sich in den frühen Morgenstunden manchmal die scheuen Eisvögel treffen, steht ein riesiges Bienenhaus. Hinter den vielen kleinen Türen befanden sich einst 36 Bienenvölker. Wie in einem Wohnhaus lebten sie hier, Tür an Tür, und labten sich an der Blütenpracht im Garten. Nur vor einem einzigen der 36 ockerfarbenen Fächer fliegen noch Bienen umher. Honig gibt es keinen mehr. Das liegt an der Räuberei durch die nahegelegenen Völker, an eingeschleppten Hornissen und auch an den Großstadt-Imker*innen mit ihren mobilen Bienenkisten. Es gibt kaum noch Kontrollen durch Tierärzt*innen und Gesundheitsämter in der Region, erklärt Herr Dziumbla, daher brächten vor allem Imker*innen aus dem nahegelegenen Berlin ihre kranken Bienenvölker einfach in den Spreewald. Faulbruten nennt man das. Und diese Bienen befallen dann auch die gesunden Bienen.
Der anfangs noch so stille Herr Dziumbla erinnert sich an jede noch so kleine Veränderung der Ökologie im Spreewald. Er weiß, seit wann die Spree nicht mehr gefriert, erinnert sich daran, wie seine Haut plötzlich brannte, als er in seiner Jugend in den Fluss sprang, und beobachtet heute, wie Industrie und Landwirtschaft ihm illegal Wasser entnehmen, bis die Spree irgendwann austrocknen wird und die Wasserarme immer weniger Fische führen, auch nicht zuletzt wegen der vielen Tourist*innen mit ihren Paddelbooten.
Vor der Abreise machen wir noch einen letzten Stop auf dem Flohmarkt beim Bismarckturm. Hier ist sie also zu finden, die DDR-Nostalgie. Fast jeden der Tische zieren Briefmarkensammlungen, Landkarten, Stehleuchten: Memorabilia im Überfluss. Die Hitze lässt den ollen Muff aus den Kartons und Kisten aufsteigen, und ein Mann mit eindeutig verfassungsfeindlicher Körperbemalung und Oakley-Sonnenbrille schaut sich in aller Ruhe die Messing-Gießkannen an. Ob der wohl auch einen Mäh-Roboter sein Eigen nennt?
Naja, ansonsten war ja wirklich alles sehr, sehr ruhig hier, und auf der Heimfahrt habe ich noch immer Herbert Grönemeyer im Ohr, wie er keift: „Spreewald ich komm aus dir!“