Altenau
Lust auf gutes Wetter und freshe Cocktails?
Dann bist du hier falsch. Eine Reise nach Altenau im Oberharz zu Schneematsch, Schnitzel und Holzschnitzkunst
TEXT A-Z Redaktion
FOTOGRAFIE Max Weise
Altenau als Podcast:
TAG EINS
PS-Prolls auf Abwegen
Mit 75 PS schrauben wir uns auf der B4 den Torfhaus-Berg hinauf, biegen rechts ab und verschwinden in einem Nebelloch. Wir haben uns vorgenommen, Altenau nicht mit der sonst üblichen Hauptstadt-Arroganz als tristes Bergdorf darzustellen.
Ab Ortsschild dann Schneeregen. Der neutrale Blick auf den 1.758-Einwohner-Ort ist getrübt. Unser Fotograf und Chauffeur Max steuert uns gemächlich die Hauptverkehrsader des Ortes entlang, der im Jahr 1617 seine Stadtrechte erhielt. Wir entdecken zahlreiche Restaurants und kommen auch an der Altenauer Brauerei vorbei, dort haben wir um 12:30 Uhr einen Termin zur Besichtigung. Wir sind ein bisschen in Eile, denn es ist schon 12:25 Uhr. Das Auto soll noch in die Nähe unserer Unterkunft gebracht werden. Diese liegt auf dem Glockenberg, in einer herrlich eintönigen Plattenbausiedlung. Wir steigen aus, das Wetter ist uns nach wie vor wohlgesonnen – es regnet in Strömen und ist eiskalt. Vor den von mir bereits fachgerecht als Plattenbauten eingestuften Mehrfamilienhäusern spielen zwei Zehnjährige in den Schneematschbergen und erfreuen sich ihrer Kindheit. Wir ziehen uns die Kapuzen über die Köpfe und spazieren in Richtung Brauerei. Auf einer über und über mit Stickern übersäten Tür am Wegesrand sticht einer besonders hervor: „GOSLAR BLEIBT DEUTSCH. Reichsbauernstadt@mail.de“. Die ganz große Story: direkt vor uns. Ein ganzer Landkreis voller Nazis! Doch wir müssen weiter, das Bier wartet. Eine vereiste Treppe mit 32.780 Stufen stellt sich uns in den Weg und wir erleben zum ersten Mal, wie hart der Alltag in einem niedersächsischen Bergdorf sein kann.
Mieten bald unbezahlbar?
Großinvestor kauft halb Altenau!
Zwischen leerstehenden Geschäften, Restaurants und noch mehr leerstehenden Geschäften ist sie kaum zu übersehen: die Altenauer Brauerei an der 250 Meter langen Hauptstraße.
Zwischen eingeschneiten Leergutpaletten, einem grau-grauen Haus und einer neugebauten Funktionshalle empfängt uns unser Guide. Der schon etwas eingeschrumpfte Pensionär mit akkurat getrimmtem Bart und schlaffem Cap auf dem Kopf, führt uns über den Hof hin zu einem kleinen Verschlag.
„Noch drei Durstige!“, dröhnt es, als wir den zwei mal zwei Meter großen Verkaufsraum betreten. Vier echte Kerle, Ü40 aus Paderborn, die mal „ohne ihre Frauen“ unterwegs sind, empfangen uns männlich. Der kleine Laden ist vollgestellt mit Bierkisten und Aufstellern, die Schnapssorten anpreisen. Der Rentner-Guide kassiert von jedem zwölf Euro. Und so tauchen wir ein in die Welt aus Hopfen und Malz, und lassen uns allerlei Edelstahlapparaturen, Filteranlagen und Maischebottiche vorführen.
Als sich endlich das Rolltor zur neugebauten Lager- und Abfüllhalle öffnet, liegt Freude in der Luft. Zwischen noch mehr Edelstahlapparaturen, meterhoch aufgetürmten Bierkisten und einem grünen Landrover mit „Altenauer“-Logo wartet das Ziel unserer Strapazen: eine Bierzeltgarnitur, eingedeckt mit einer grünen Plastiktischdecke und sieben leeren Biergläsern. Reißende Harzbäche, grüne Wälder, glückliche Wanderer, saftige Hopfenblüten und perlendes, kaltes Bier: Auf dem riesigen Flatscreen läuft ein Imagefilm der Brauerei, und wir stoßen an!
Neben mir sitzt das Nesthäkchen der Paderborn-Gruppe. „Der Investor“, 32, Kaufmann von Beruf. Zwei Wohnungen hat er in Altenau gekauft, denn er glaubt an die Zukunft des Harzes. Eine hat nur 10.000 Euro gekostet, da hat er direkt eine zweite dazu gekauft, und weil’s so billig war noch eine dritte. Die Ferienwohnungen des smarten Investors liegen, wie auch unsere, auf dem Glockenberg. Am Fuße dieser Erhebung finden sich verstreut die typischen Harzhäuser, oft mit Holzverkleidung und oft leerstehend. In der Hoffnung auf einen Touristen-Boom baute man in den 1970ern einen über 1.000 Wohnungen fassenden Komplex. Doch nach der Wende kamen noch weniger Touristen in den Westharz und viele der Wohnungen stehen seither leer. Altenau habe aber investiert, erzählt der Investor, irgendwas mit Diskuswerfen für die ganze Familie, darüber spräche man sogar bei ihm in NRW. Der Mann glaubt an sich und Altenau. Bis jetzt haben wir vom neuen Glanz noch nichts mitbekommen, aber nach dem dritten Bier geht’s uns trotzdem prächtig.
Der Guide steht am Kopfende, gönnt sich ein Feierabendbier und wird etwas unruhig, als er bemerkt, dass wir mit den Paderbornern in Trinklaune geraten. Nach dem vierten Bier löst er die Runde auf. Team Paderborn ist in Fahrt und bestellt ein Taxi nach Braunlage, genauer „Zum singenden Wirt“, quasi dem Ballermann des Oberharzes. Klingt verlockend, aber wir haben hier noch einen Job zu erledigen.
Bildungskrise –
so schlimm geht’s dem Nachwuchs
Jeder von uns dreien hat einen Sechserträger der Altenauer Biersorten in die Hand gedrückt bekommen. Noch immer ist bestes Wetter, und so hat sich ein riesiger Schneematschsee vor dem Haus unserer Vermieterin Frau E. gebildet. Es führt kein Weg daran vorbei, und so dippe ich knöcheltief in Harzer Schneeregenwasser und klopfe. Frau E. bittet mich hinein, wahrscheinlich riecht sie meine Fahne. Mit meinen Stiefeln betrete ich das Wohnzimmer und tauche ein in eine Wolke aus kaltem Rauch. Hastig fülle ich den Kurtaxe-Schein aus. Währenddessen hüpft Frau E.s Tochter durch die Wohnküche und erzählt mir stolz, dass sie sechs Jahre alt ist und schon super viel in der Grundschule gelernt hat. (Während meiner anschließenden Investigativ-Recherchen werde ich auf eine Immobilienanzeige für das ehemalige Grundschulgebäude in Altenau stoßen: Seit 2009 müssen die Schulkinder ins zwölf Kilometer entfernte Clausthal fahren, um Lesen und Schreiben zu lernen. Und das bei dem Wetter!) Ich verabschiede mich von Mutter und Tochter, meine Blase drückt extrem, doch mir ist es zu unangenehm zu fragen, ob ich die Toilette benutzen darf. Außerdem stehen Marcel und Max ja vor dem Haus im Regen – drei betrunkene Männer wollten wir uns der Frau lieber nicht als ihre Feriengäste vorstellen. Die Straße ist leer, ein Busch bietet sich an und so lasse ich das Altenauer Bier in den Schnee prasseln. Wir holen unsere Taschen aus dem Auto und begeben uns in Block D, dort ist unsere Wohnung im Erdgeschoss mit Blick auf die Müllcontainer. Die Wohnung ist liebevoll eingerichtet. Eine rosafarbene, buntgemusterte Sofalandschaft bildet ein verspieltes Arrangement mit ultramarinblauen Kunstlederstühlen. Ein Gemälde mit einer mediterranen Stadtkulisse in warmen Farbtönen steht in schönem Kontrast zum allgegenwärtigen Altenauer Grau. Wir entdecken eine Flasche pinkfarbenen Jules Mumms im Kühlschrank und stoßen an. Auf uns – was sonst?!
100% Testosteron –
Ein Zimmer voller Kerle
Fußball: ein Sport, der die Menschen jeden Samstag zusammenbringt. Auch in Altenau.
Das „Café Meier“ liegt gegenüber der Brauerei. Wir betreten einen dunklen, etwa zwölf Quadratmeter großen Raum. Die Wand ziert eine Fototapete, passend in Wald-Optik, und am Fenster hängen Gardinen wie aus Omas Küche. Es begrüßen uns Männer, viele Männer, ausschließlich Männer! Ein sehr potenter Elektro-Ofen verbrennt den letzten Rest Sauerstoff in dieser Fußballstube und einzig und allein der Fernseher sorgt für eine atmosphärische Beleuchtung. Zum Glück wird hier auch ordentlich geraucht.
Pünktlich zur zweiten Halbzeit angekommen, quetschen wir uns auf die letzten freien Plätze der Eckbank. Neben uns sitzen drei Herren, Altenauer mit Leib und Seele. Sie haben einen HSV-Fanklub gegründet, für die gibt’s also heute nichts zu sehen, denn der HSV spielt ja bekanntlich in der zweiten Liga. Außer uns und den Altenauern sitzt noch der Kader einer Fußballmannschaft im Raum verteilt. Die Jungs machen sich ein schönes Wochenende im Harz, nach dem Spiel soll noch gegrillt werden. Derweil regnet es draußen weiter, die Hauptstraße verwandelt sich langsam in einen reißenden Bach: ein perfekter Januartag zum Angrillen!
Das „Café Meier“ kann neben dem Fernsehraum noch mit einem geräumigen Restaurant aufwarten. Pizza, Schnitzel und Grünkohl stehen hier auf der Speisekarte. Das freundliche Personal nimmt abwechselnd die Bierbestellung auf und gesellt sich auf eine Zigarette mit in die Fußballstube.
Kurz vor Abpfiff, man glaubt’s kaum, betritt eine Frau die Szenerie! Sie scheint die Herren des HSV-Fanclubs zu kennen. Küsschen links und rechts, erkundigt sie sich, warum Detlef oder Wolfgang (oder so) heute nicht da ist. Und weg ist sie wieder.
Urlaubs-Schmarotzer.
So ruinieren die Touris das Geschäft!!!
Was Altenau kulinarisch zu bieten hat, wollen wir beim Abendessen herausfinden. Das Restaurant „Klippen-Grill“ macht einen guten Eindruck. Leider sind alle Tische reserviert und so öffnen wir die Pforten zum Wirtshaus „Zum Löwen“. Wie viele Einrichtungen in Deutschland sich wohl für diesen Namen entschieden haben? Wir betreten einen Gastraum von stattlicher Größe mit circa 20 Tischen. Wir stehen herum wie Falschgeld, bis eine kräftige Mittvierzigerin auf uns zukommt: „Sucht euch einfach ein Tisch aus.“ Wir nehmen Platz und bestellen voller Vorfreude Schnitzel und Bier. Der Tisch neben uns wird von einer Gruppe junger Eltern inklusive ihrer Kleinkinder in Beschlag genommen. Ich hoffe, dass wir uns unauffällig verhalten. Dann kommt das Schnitzel. Es sieht aus wie ein panierter Pfannkuchen. Auch die inneren Werte lassen auf ein Pressschnitzel schließen, dafür sind die Pommes aber erste Sahne. Die rhetorische Frage danach, wie es geschmeckt hat, beantwortet Max: „Das war wirklich das beste Schnitzel, das ich je gegessen habe!“ Beim Verlassen spüre ich deutlich die Erleichterung der restlichen Gäste – das unauffällige Verhalten scheint gescheitert. Um das zu verdrängen, gehen wir zurück ins „Café Meier“. Der Raum hat sich geleert, nur noch zwei Typen sind da und glotzen stumm in das Weser-Stadion. Eintracht Frankfurt liefert sich ein heißes Duell mit Werder Bremen. Max hat den Kampf gegen die Müdigkeit verloren, er legt den Kopf auf den Tisch und seine Augen fallen zu. Irgendwann kommt ein kleiner hagerer Mann in Kochuniform dazu. Er schüttelt den Kopf und ärgert sich über seine Eintracht. Später begegne ich ihm am Pissoir. „Scheißwetter für uns. Da kommt ja keiner hierhin!“ Mein Becken ist direkt unterm weit geöffneten Fenster. Ich blicke in die kalte, verregnete Nacht.
Diese Runde Bier bezahlen wir, den Deckel von heute Nachmittag behalten wir als Andenken.
Double Trouble –
im Gastraum der Liebe
Der Abend könnte an dieser Stelle zu Ende sein. Als wir in die Altenauer Nacht treten, regnet es noch immer ohne Unterlass. Aber Professionalität geht vor! Jakob und ich beschließen, im nächsten Lokal – Name unbekannt – noch einen Absacker einzunehmen und die Suche nach dem großen Scoop fortzusetzen.
Es offenbart sich uns ein geräumiger Gastraum, ganz nach niedersächsischer Gemütlichkeit eingerichtet: die Sitzbänke mit gemustertem Stoff bezogen, der Fußboden beige gefliest, die Wände neben dem Tresen mit gerahmten Nachdrucken alter Coca Cola-Werbetafeln geschmückt. Volle Lippen, die an Coke-Flaschen nuckeln. Ich spüre beim Gang zum Tresen, dass wir alles richtig gemacht haben.
Wir werden herzlich von zwei Herren in Bruce-Springsteen-Gedächtnis-Partnerlook begrüßt: rot-schwarz-kariertes Flanellhemd meets Blue Jeans. Das mit dem Partnerlook machen sie nur am Wochenende, wenn es voll ist, damit die Gäste wissen, bei wem sie bestellen können.
Außer uns sitzt noch ein älteres Ehepaar am anderen Ende des Tresens, im Hintergrund läuft Vicky Leandros auf Zimmerlautstärke. Wie es sich gehört, gibt es hier Altenauer vom Fass. Max, durch den Lokalwechsel noch nicht ganz wiederbelebt, entscheidet sich trotzdem für Coca Cola, sicher dem Einfluss der sexy Werbeschilder geschuldet. Die Jungs hinterm Tresen sind sehr aufmerksam: Kaum ist ein Glas geleert, nimmt Detlef die neue Bestellung auf, und Uwe, ausschließlich Uwe!, zapft ein frisches Bier. Detlef wischt derweil mal hier, mal da den Tresen ab und tauscht nach jeder Zigarette den Aschenbecher aus. Wir bestellen eine Schachtel TAWA No. 5, die Uwe aus einem Fünfzigerjahre-Buffet hinterm Tresen hervorholt, und Max trinkt seine vierte Cola. Zwischendurch flüstern und kichern die beiden Wirte etwas abseits, ziehen an ihren Zigaretten und nippen Bier aus Sektflöten.
Uwe und Detlef kommen aus Bad Wildungen, einem Kurort in Nordhessen. Dort hatten sie auch eine Kneipe, in der sie ab und zu sogar selbst Travestieshows aufgeführt haben. In den Harz sind sie wegen der guten Luft gekommen, aber die Altenauer sind langweilig und seltsam, da sind sich die beiden sicher. Auf einem Schild vor ihrem Laden stand einst „Dorfkneipe geöffnet“, bis der einzige Polizist der Stadt Beschwerde einreichte: „Altenau ist eine Bergstadt, kein Dorf.“ Der Sheriff ist jetzt zum Glück in Rente.
Mittlerweile sind vier weitere Gäste eingetroffen. Die beiden Chefs des berühmten „Klippen-Grills“, Matthias, der Koch, und sein Vater, seines Zeichens Senior im Grill, schauen auf eine Feierabendvisite vorbei und spendieren eine Lokalrunde „Schierker Feuerstein“. Laut Uwe und Detlef ist Matthias aus dem „Klippen-Grill“ der beste Koch im Dorf, äh der Stadt, doch davon wollen wir uns morgen überzeugen.
Und so geht ein erster Tag in Altenau vorbei.
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Altenau
Lust auf gutes Wetter und freshe Cocktails? Dann bist du hier falsch. Eine Reise nach Altenau im Oberharz zu Schneematsch, Schnitzel und Holzschnitzkunst
TEXT A-Z Redaktion
FOTOGRAFIE Max Weise
Altenau-Podcast:
TAG EINS
PS-Prolls auf Abwegen
Mit 75 PS schrauben wir uns auf der B4 den Torfhaus-Berg hinauf, biegen rechts ab und verschwinden in einem Nebelloch. Wir haben uns vorgenommen, Altenau nicht mit der sonst üblichen Hauptstadt-Arroganz als tristes Bergdorf darzustellen.
Ab Ortsschild dann Schneeregen. Der neutrale Blick auf den 1.758-Einwohner-Ort ist getrübt. Unser Fotograf und Chauffeur Max steuert uns gemächlich die Hauptverkehrsader des Ortes entlang, der im Jahr 1617 seine Stadtrechte erhielt. Wir entdecken zahlreiche Restaurants und kommen auch an der Altenauer Brauerei vorbei, dort haben wir um 12:30 Uhr einen Termin zur Besichtigung. Wir sind ein bisschen in Eile, denn es ist schon 12:25 Uhr. Das Auto soll noch in die Nähe unserer Unterkunft gebracht werden. Diese liegt auf dem Glockenberg, in einer herrlich eintönigen Plattenbausiedlung. Wir steigen aus, das Wetter ist uns nach wie vor wohlgesonnen – es regnet in Strömen und ist eiskalt. Vor den von mir bereits fachgerecht als Plattenbauten eingestuften Mehrfamilienhäusern spielen zwei Zehnjährige in den Schneematschbergen und erfreuen sich ihrer Kindheit. Wir ziehen uns die Kapuzen über die Köpfe und spazieren in Richtung Brauerei. Auf einer über und über mit Stickern übersäten Tür am Wegesrand sticht einer besonders hervor: „GOSLAR BLEIBT DEUTSCH. Reichsbauernstadt@mail.de“. Die ganz große Story: direkt vor uns. Ein ganzer Landkreis voller Nazis! Doch wir müssen weiter, das Bier wartet. Eine vereiste Treppe mit 32.780 Stufen stellt sich uns in den Weg und wir erleben zum ersten Mal, wie hart der Alltag in einem niedersächsischen Bergdorf sein kann.
Mieten bald unbezahlbar?
Großinvestor kauft halb Altenau!
Zwischen leerstehenden Geschäften, Restaurants und noch mehr leerstehenden Geschäften ist sie kaum zu übersehen: die Altenauer Brauerei an der 250 Meter langen Hauptstraße.
Zwischen eingeschneiten Leergutpaletten, einem grau-grauen Haus und einer neugebauten Funktionshalle empfängt uns unser Guide. Der schon etwas eingeschrumpfte Pensionär mit akkurat getrimmtem Bart und schlaffem Cap auf dem Kopf, führt uns über den Hof hin zu einem kleinen Verschlag.
„Noch drei Durstige!“, dröhnt es, als wir den zwei mal zwei Meter großen Verkaufsraum betreten. Vier echte Kerle, Ü40 aus Paderborn, die mal „ohne ihre Frauen“ unterwegs sind, empfangen uns männlich. Der kleine Laden ist vollgestellt mit Bierkisten und Aufstellern, die Schnapssorten anpreisen. Der Rentner-Guide kassiert von jedem zwölf Euro. Und so tauchen wir ein in die Welt aus Hopfen und Malz, und lassen uns allerlei Edelstahlapparaturen, Filteranlagen und Maischebottiche vorführen.
Als sich endlich das Rolltor zur neugebauten Lager- und Abfüllhalle öffnet, liegt Freude in der Luft. Zwischen noch mehr Edelstahlapparaturen, meterhoch aufgetürmten Bierkisten und einem grünen Landrover mit „Altenauer“-Logo wartet das Ziel unserer Strapazen: eine Bierzeltgarnitur, eingedeckt mit einer grünen Plastiktischdecke und sieben leeren Biergläsern. Reißende Harzbäche, grüne Wälder, glückliche Wanderer, saftige Hopfenblüten und perlendes, kaltes Bier: Auf dem riesigen Flatscreen läuft ein Imagefilm der Brauerei, und wir stoßen an!
Neben mir sitzt das Nesthäkchen der Paderborn-Gruppe. „Der Investor“, 32, Kaufmann von Beruf. Zwei Wohnungen hat er in Altenau gekauft, denn er glaubt an die Zukunft des Harzes. Eine hat nur 10.000 Euro gekostet, da hat er direkt eine zweite dazu gekauft, und weil’s so billig war noch eine dritte. Die Ferienwohnungen des smarten Investors liegen, wie auch unsere, auf dem Glockenberg. Am Fuße dieser Erhebung finden sich verstreut die typischen Harzhäuser, oft mit Holzverkleidung und oft leerstehend. In der Hoffnung auf einen Touristen-Boom baute man in den 1970ern einen über 1.000 Wohnungen fassenden Komplex. Doch nach der Wende kamen noch weniger Touristen in den Westharz und viele der Wohnungen stehen seither leer. Altenau habe aber investiert, erzählt der Investor, irgendwas mit Diskuswerfen für die ganze Familie, darüber spräche man sogar bei ihm in NRW. Der Mann glaubt an sich und Altenau. Bis jetzt haben wir vom neuen Glanz noch nichts mitbekommen, aber nach dem dritten Bier geht’s uns trotzdem prächtig.
Der Guide steht am Kopfende, gönnt sich ein Feierabendbier und wird etwas unruhig, als er bemerkt, dass wir mit den Paderbornern in Trinklaune geraten. Nach dem vierten Bier löst er die Runde auf. Team Paderborn ist in Fahrt und bestellt ein Taxi nach Braunlage, genauer „Zum singenden Wirt“, quasi dem Ballermann des Oberharzes. Klingt verlockend, aber wir haben hier noch einen Job zu erledigen.
Bildungskrise –
so schlimm geht’s dem Nachwuchs
Jeder von uns dreien hat einen Sechserträger der Altenauer Biersorten in die Hand gedrückt bekommen. Noch immer ist bestes Wetter, und so hat sich ein riesiger Schneematschsee vor dem Haus unserer Vermieterin Frau E. gebildet. Es führt kein Weg daran vorbei, und so dippe ich knöcheltief in Harzer Schneeregenwasser und klopfe. Frau E. bittet mich hinein, wahrscheinlich riecht sie meine Fahne. Mit meinen Stiefeln betrete ich das Wohnzimmer und tauche ein in eine Wolke aus kaltem Rauch. Hastig fülle ich den Kurtaxe-Schein aus. Währenddessen hüpft Frau E.s Tochter durch die Wohnküche und erzählt mir stolz, dass sie sechs Jahre alt ist und schon super viel in der Grundschule gelernt hat. (Während meiner anschließenden Investigativ-Recherchen werde ich auf eine Immobilienanzeige für das ehemalige Grundschulgebäude in Altenau stoßen: Seit 2009 müssen die Schulkinder ins zwölf Kilometer entfernte Clausthal fahren, um Lesen und Schreiben zu lernen. Und das bei dem Wetter!) Ich verabschiede mich von Mutter und Tochter, meine Blase drückt extrem, doch mir ist es zu unangenehm zu fragen, ob ich die Toilette benutzen darf. Außerdem stehen Marcel und Max ja vor dem Haus im Regen – drei betrunkene Männer wollten wir uns der Frau lieber nicht als ihre Feriengäste vorstellen. Die Straße ist leer, ein Busch bietet sich an und so lasse ich das Altenauer Bier in den Schnee prasseln. Wir holen unsere Taschen aus dem Auto und begeben uns in Block D, dort ist unsere Wohnung im Erdgeschoss mit Blick auf die Müllcontainer. Die Wohnung ist liebevoll eingerichtet. Eine rosafarbene, buntgemusterte Sofalandschaft bildet ein verspieltes Arrangement mit ultramarinblauen Kunstlederstühlen. Ein Gemälde mit einer mediterranen Stadtkulisse in warmen Farbtönen steht in schönem Kontrast zum allgegenwärtigen Altenauer Grau. Wir entdecken eine Flasche pinkfarbenen Jules Mumms im Kühlschrank und stoßen an. Auf uns – was sonst?!
100% Testosteron –
Ein Zimmer voller Kerle
Fußball: ein Sport, der die Menschen jeden Samstag zusammenbringt. Auch in Altenau.
Das „Café Meier“ liegt gegenüber der Brauerei. Wir betreten einen dunklen, etwa zwölf Quadratmeter großen Raum. Die Wand ziert eine Fototapete, passend in Wald-Optik, und am Fenster hängen Gardinen wie aus Omas Küche. Es begrüßen uns Männer, viele Männer, ausschließlich Männer! Ein sehr potenter Elektro-Ofen verbrennt den letzten Rest Sauerstoff in dieser Fußballstube und einzig und allein der Fernseher sorgt für eine atmosphärische Beleuchtung. Zum Glück wird hier auch ordentlich geraucht.
Pünktlich zur zweiten Halbzeit angekommen, quetschen wir uns auf die letzten freien Plätze der Eckbank. Neben uns sitzen drei Herren, Altenauer mit Leib und Seele. Sie haben einen HSV-Fanklub gegründet, für die gibt’s also heute nichts zu sehen, denn der HSV spielt ja bekanntlich in der zweiten Liga. Außer uns und den Altenauern sitzt noch der Kader einer Fußballmannschaft im Raum verteilt. Die Jungs machen sich ein schönes Wochenende im Harz, nach dem Spiel soll noch gegrillt werden. Derweil regnet es draußen weiter, die Hauptstraße verwandelt sich langsam in einen reißenden Bach: ein perfekter Januartag zum Angrillen!
Das „Café Meier“ kann neben dem Fernsehraum noch mit einem geräumigen Restaurant aufwarten. Pizza, Schnitzel und Grünkohl stehen hier auf der Speisekarte. Das freundliche Personal nimmt abwechselnd die Bierbestellung auf und gesellt sich auf eine Zigarette mit in die Fußballstube.
Kurz vor Abpfiff, man glaubt’s kaum, betritt eine Frau die Szenerie! Sie scheint die Herren des HSV-Fanclubs zu kennen. Küsschen links und rechts, erkundigt sie sich, warum Detlef oder Wolfgang (oder so) heute nicht da ist. Und weg ist sie wieder.
Urlaubs-Schmarotzer.
So ruinieren die Touris das Geschäft!!!
Was Altenau kulinarisch zu bieten hat, wollen wir beim Abendessen herausfinden. Das Restaurant „Klippen-Grill“ macht einen guten Eindruck. Leider sind alle Tische reserviert und so öffnen wir die Pforten zum Wirtshaus „Zum Löwen“. Wie viele Einrichtungen in Deutschland sich wohl für diesen Namen entschieden haben? Wir betreten einen Gastraum von stattlicher Größe mit circa 20 Tischen. Wir stehen herum wie Falschgeld, bis eine kräftige Mittvierzigerin auf uns zukommt: „Sucht euch einfach ein Tisch aus.“ Wir nehmen Platz und bestellen voller Vorfreude Schnitzel und Bier. Der Tisch neben uns wird von einer Gruppe junger Eltern inklusive ihrer Kleinkinder in Beschlag genommen. Ich hoffe, dass wir uns unauffällig verhalten. Dann kommt das Schnitzel. Es sieht aus wie ein panierter Pfannkuchen. Auch die inneren Werte lassen auf ein Pressschnitzel schließen, dafür sind die Pommes aber erste Sahne. Die rhetorische Frage danach, wie es geschmeckt hat, beantwortet Max: „Das war wirklich das beste Schnitzel, das ich je gegessen habe!“ Beim Verlassen spüre ich deutlich die Erleichterung der restlichen Gäste – das unauffällige Verhalten scheint gescheitert. Um das zu verdrängen, gehen wir zurück ins „Café Meier“. Der Raum hat sich geleert, nur noch zwei Typen sind da und glotzen stumm in das Weser-Stadion. Eintracht Frankfurt liefert sich ein heißes Duell mit Werder Bremen. Max hat den Kampf gegen die Müdigkeit verloren, er legt den Kopf auf den Tisch und seine Augen fallen zu. Irgendwann kommt ein kleiner hagerer Mann in Kochuniform dazu. Er schüttelt den Kopf und ärgert sich über seine Eintracht. Später begegne ich ihm am Pissoir. „Scheißwetter für uns. Da kommt ja keiner hierhin!“ Mein Becken ist direkt unterm weit geöffneten Fenster. Ich blicke in die kalte, verregnete Nacht.
Diese Runde Bier bezahlen wir, den Deckel von heute Nachmittag behalten wir als Andenken.
Double Trouble –
im Gastraum der Liebe
Der Abend könnte an dieser Stelle zu Ende sein. Als wir in die Altenauer Nacht treten, regnet es noch immer ohne Unterlass. Aber Professionalität geht vor! Jakob und ich beschließen, im nächsten Lokal – Name unbekannt – noch einen Absacker einzunehmen und die Suche nach dem großen Scoop fortzusetzen.
Es offenbart sich uns ein geräumiger Gastraum, ganz nach niedersächsischer Gemütlichkeit eingerichtet: die Sitzbänke mit gemustertem Stoff bezogen, der Fußboden beige gefliest, die Wände neben dem Tresen mit gerahmten Nachdrucken alter Coca Cola-Werbetafeln geschmückt. Volle Lippen, die an Coke-Flaschen nuckeln. Ich spüre beim Gang zum Tresen, dass wir alles richtig gemacht haben.
Wir werden herzlich von zwei Herren in Bruce-Springsteen-Gedächtnis-Partnerlook begrüßt: rot-schwarz-kariertes Flanellhemd meets Blue Jeans. Das mit dem Partnerlook machen sie nur am Wochenende, wenn es voll ist, damit die Gäste wissen, bei wem sie bestellen können.
Außer uns sitzt noch ein älteres Ehepaar am anderen Ende des Tresens, im Hintergrund läuft Vicky Leandros auf Zimmerlautstärke. Wie es sich gehört, gibt es hier Altenauer vom Fass. Max, durch den Lokalwechsel noch nicht ganz wiederbelebt, entscheidet sich trotzdem für Coca Cola, sicher dem Einfluss der sexy Werbeschilder geschuldet. Die Jungs hinterm Tresen sind sehr aufmerksam: Kaum ist ein Glas geleert, nimmt Detlef die neue Bestellung auf, und Uwe, ausschließlich Uwe!, zapft ein frisches Bier. Detlef wischt derweil mal hier, mal da den Tresen ab und tauscht nach jeder Zigarette den Aschenbecher aus. Wir bestellen eine Schachtel TAWA No. 5, die Uwe aus einem Fünfzigerjahre-Buffet hinterm Tresen hervorholt, und Max trinkt seine vierte Cola. Zwischendurch flüstern und kichern die beiden Wirte etwas abseits, ziehen an ihren Zigaretten und nippen Bier aus Sektflöten.
Uwe und Detlef kommen aus Bad Wildungen, einem Kurort in Nordhessen. Dort hatten sie auch eine Kneipe, in der sie ab und zu sogar selbst Travestieshows aufgeführt haben. In den Harz sind sie wegen der guten Luft gekommen, aber die Altenauer sind langweilig und seltsam, da sind sich die beiden sicher. Auf einem Schild vor ihrem Laden stand einst „Dorfkneipe geöffnet“, bis der einzige Polizist der Stadt Beschwerde einreichte: „Altenau ist eine Bergstadt, kein Dorf.“ Der Sheriff ist jetzt zum Glück in Rente.
Mittlerweile sind vier weitere Gäste eingetroffen. Die beiden Chefs des berühmten „Klippen-Grills“, Matthias, der Koch, und sein Vater, seines Zeichens Senior im Grill, schauen auf eine Feierabendvisite vorbei und spendieren eine Lokalrunde „Schierker Feuerstein“. Laut Uwe und Detlef ist Matthias aus dem „Klippen-Grill“ der beste Koch im Dorf, äh der Stadt, doch davon wollen wir uns morgen überzeugen.
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